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Der vergessene Feminismus

Der klassische Feminismus ist überholt, abgehakt, vielleicht sogar schon tot. So lautet die vorherrschende Meinung. Viele seiner einstigen Vordenkerinnen und Starautorinnen indes leben noch – wenn auch häufig in Vergessenheit und nicht selten am Rand des Existenzminimums. Selbstbeobachtungen über den Schwebezustand zwischen verblaßtem Ruhm und drohender Altersarmut  ■ von Kate Millett

Wieder ein Sommer auf der Farm, nicht schlecht, aber auch nicht besonders gut: die Eintönigkeit einer kleinen Gemeinschaft, das Abernten der Bäume, hinterher so erschöpft, daß ich nur gelesen habe. Ein Sommer, ohne zu schreiben oder Siebdrucke zu machen oder zu malen. Zurück nach New York in eine andere Leere. Ich kann nicht den ganzen Tag mit Lesen verbringen, also schreibe ich oder versuche es wenigstens. Eine reine Fingerübung, sinnlos. Meine Bücher sind vergriffen, sogar „Sexus und Herrschaft“, und für das Manuskript über meine Mutter findet sich kein Verlag.

Ich versuche auch, einen Job zu bekommen. Zuerst ist der Ton an den Universitäten freundlich und einladend, weil sie denken, ich sei wohlhabend und es gehe mir nicht um das Geld. Ein bißchen Verlegenheit, als sie mir den neuen Hungerlohn anbieten. Ich höre das schuldbewußte kurze Stocken in der Stimme der Verwaltung. In meinem Fall sehen sie sich genötigt, möglicherweise ein großes Zugeständnis zu machen, 3.000 Dollar. Davon könne ich nicht leben, wende ich ein. „Natürlich nicht, niemand kann das.“ Sie lachen in sich hinein und sitzen dabei selber auf ihren 50.000- bis 100.000-Dollar-“Positionen“. Ich habe promovierte Freundinnen, die nicht mehr als 12.000 Dollar im Jahr verdienen, sich an fünf verschiedenen Hochschulen mühsam durchschlagen, ihr Leben im Auto verbringen und dabei wirtschaftlich am Abgrund stehen.

Ich bin dafür zu alt, ich brauche mehr. „Ach, unser Budget“, klagen sie, „wir haben wirklich keine Mittel zur Verfügung, so gern wir Sie auch einstellen würden.“ „Qualifiziert bin ich doch?“ frage ich, nicht als eine „Berühmtheit“, sondern als angesehene Wissenschaftlerin mit jahrelanger Lehrerfahrung, einer Prädikats-Promotion an der Universität Columbia, einem erstklassigen Oxford-Abschluß und acht veröffentlichten Büchern. Sie würden sich wieder melden. Aber sie tun es nie.

Ich frage mich allmählich, was mit mir nicht stimmt. Bin ich „zu exzentrisch“ oder zu alt? Ist es das Alter? Ich bin 63. Oder bin ich in den Augen der „neuen feministischen Wissenschaft“ unmodern? Oder ist es etwas Schlimmeres? Bin ich denunziert oder schlechtgemacht worden? Von wem? Was um Himmels willen ist mit mir los? Läßt mein Feminismus mich so abstoßend erscheinen?

Eigentlich sollten meine guten Oxford- Manieren beruhigend wirken. Gott weiß, daß ich ehrerbietig genug mit diesen Leuten umgehe. Mir wird allmählich klar, daß es keinen Job gibt. Ich kann keine feste Anstellung bekommen. Ich kann kein Geld verdienen. Nur indem ich Weihnachtsbäume verkaufe, einen nach dem anderen, in der Kälte von Poughkeepsie. Ich kann nicht unterrichten und habe jetzt nur noch die Farm.

Und wenn ich körperlich nicht mehr in der Lage bin, die Farm zu bewirtschaften, was dann? Nichts, was ich jetzt schreibe, hat Aussicht, je veröffentlicht zu werden. Ich habe keine marktgängigen Fähigkeiten, bei all meiner vermeintlichen Bildung. Ich bin nicht vermittelbar. Beängstigend, diese Zukunft. Armut, Demütigung, die ferne Horrorvision einer Obdachlosen mit ihren Plastiktüten – was steht mir bevor, wenn meine Ersparnisse aufgebraucht sind? Und warum habe ich gedacht, es würde anders sein, meine Bücher würden mir ein bescheidenes Auskommen sichern oder ich könnte wenigstens unterrichten – in der Lebensphase, in der die anderen HochschullehrerInnen in den Ruhestand treten, nachdem sie all die langen Jahre ihren Dienst getan haben? Während ich die Freiheit einer Autorin und Künstlerin genossen habe, ohne festes Einkommen, aber imstande, mit dem wenigen, was ich brauchte, zu überleben, eine Farm aufzubauen und daraus eine sich selbst versorgende Künstlerinnen-Kolonie zu machen und sogar noch etwas beiseite zu legen.

Die Ersparnisse werden vielleicht für zehn Jahre reichen, eher für sieben. Also sollte ich in sieben Jahren sterben. Aber das werde ich wahrscheinlich nicht, die Frauen in meiner Familie leben ewig. So müde ich eines Lebens ohne Zukunft bin und ohne eine sinnvolle Arbeit, die es erträglich machen würde, ich kann nicht sterben, denn in dem Moment, wo ich sterbe, werden meine Skulpturen, Zeichnungen, Negative und Drucke auf den Abfall gekarrt werden.

In ihrem ersten Angebot letzten Herbst (es dauerte zwölf Monate, bis sie es schickten) bot mir The Feminist Press 500 Dollar für einen Nachdruck des Textes von „Sexus und Herrschaft“. Mehr noch, sie konnten es nicht vor dem Jahr 2000 herausbringen, weil sie erst ein oder zwei hochgestochene Einleitungen von jüngeren, großartigeren Wissenschaftlerinnen aus den „Women's Studies“ in Auftrag geben mußten. Meine Agentin und ich lehnten dieses Angebot freudig ab, auch das nächste, über 1.000 Dollar. Auch bei den entscheidenden Leuten von Doubleday stößt „Sexus und Herrschaft“ auf kein Interesse. Sie haben einen Nachdruck abgelehnt, obwohl eine andere Verlagsabteilung einen langen Auszug in eine Anthologie der zehn wichtigsten Bücher aufgenommen hat, die der Verlag in seiner hundertjährigen Geschichte publiziert hat. Eine junge Doubleday-Herausgeberin gab meiner Agentin zu verstehen, die neuere feministische Forschung lasse mein Buch im „gegenwärtigen Klima“ irgendwie veraltet erscheinen. Ich bin aus der Mode in der neuen akademischen Feminismus-Industrie.

Vor kurzem erschien ein Buch mit dem Titel „Wer hat den Feminismus gestohlen?“ Ich jedenfalls nicht. Auch nicht Ti- Grace Atkinson. Oder Jill Johnston. Unsere Bücher sind alle vergriffen. Wir haben einander wenig geholfen, waren nicht imstande, ein stabiles Gebäude zu errichten, das Gemeinschaft oder Sicherheit geboten hätte. Ein paar Frauen dieser Generation sind verschwunden, um in vorläufiger Vergessenheit allein zu kämpfen. Oder sie haben sich in Irrenanstalten verloren und müssen noch zurückkehren, um ihre Geschichte zu erzählen, so wie Shula Firestone es getan hat. Es gab Verzweiflung, die nur im Tod enden konnte: Maria del Drago hat den Freitod gewählt, ebenso Ellen Frankfurt und Elizabeth Fischer, die Gründerin von Aphra, der ersten feministischen Literaturzeitschrift.

Elizabeth und ich haben uns in einem behaglichen alten Hippie-Café im Greenwich Village oft zufällig getroffen. Ich ging dort nachmittags hin, um einige der dunkleren Passagen des „Klapsmühlentrips“ in der Öffentlichkeit zu schreiben und so den Gefahren der selbstmörderischen Privatheit zu Hause zu entgehen. Sie beendete gerade ein Buch, das ihr Lebenswerk darstellte. Vermutlich fand es auf dem bereits überfüllten neuen Markt der „Women's Studies“, unter den Büchern der frisch gekürten Expertinnen, nicht die Resonanz, die sie sich erhofft hatte. Elizabeth und ich aßen gemeinsam ein spätes Frühstück und plauderten, wobei wir unser Elend sorgsam verbargen.

Feministinnen beklagten sich damals nicht beieinander, jede dachte, ihre Einsamkeit und ihr Gefühl des Scheiterns seien einzigartig. Selbsterfahrungsgruppen gab es damals nicht mehr. Wir hatten keine Gefährtinnen: New York ist keine gemütliche Stadt. Elizabeth ist tot, und ich muß leben, um die Geschichte zu erzählen – in der Hoffnung, einer neuen Generation etwas von dem zu vermitteln, was ich sie wissen lassen möchte, über den langen Kampf um die Frauenbefreiung, über Geschichte, über Amerika und über Zensur. Vielleicht hoffe ich auch erklären zu können, daß es nicht leicht ist, sozialen Wandel herbeizuführen, daß die Pionierinnen in einer Einsamkeit leben, die nicht notwendig wäre, und daß sie teuer bezahlen für das, was die Nutznießerinnen für selbstverständlich halten. Warum sind Frauen zum Teil unfähig, ihre eigene Geschichte zu sehen und hochzuhalten? Welches verborgene Schamgefühl stumpft uns so ab? Wir haben nicht die Gemeinschaft errichtet, die notwendig wäre, um einander im Alter zu unterstützen. Und nun klafft ein Spalt zwischen der Sichtweise der einen Generation und der der nächsten, und wir haben unseren Sinn für Kontinuität und Zusammengehörigkeit weitgehend verloren.

Aber ich habe auch 40 Jahre als Künstlerin in New York gelebt und mich an den existentiellen Abgrund gewöhnt. Und sogar während ich alles für verloren erkläre, plane ich ein Comeback... Ich denke an eine Menschenrechtsinitiative für sehr alte Leute, an Auswahleditionen meiner gesammelten Werke und an den endgültigen Ruhm. Erst letzte Woche, nach einem guten Essen und einer guten Theateraufführung (Arthur Millers „American Clock“), lag ich wach und schmiedete Pläne, addierte die Einnahmen aus der Farm und malte mir einen Sommer der Instandsetzung aus. Ich nahm mir vor, das Schieferdach des Wohnhauses zu erneuern und jedes Gebäude frisch zu streichen, das Haus lavendelfarben und die Scheune blau. Ich rechnete alles zusammen, entzückt darüber, daß meine Kreditkartenkonten endlich ausgeglichen sind, und um drei Uhr morgens notierte ich mir, daß ich wieder Rosen pflanzen will, die ultimative Geste des Erfolgs. Am Ende werde ich gesiegt haben. Gut zu leben ist die beste Revanche.

Und dann die Krönung meines Entschlusses, ein Besuch bei meiner älteren Schwester, der Bankerin und Rechtsanwältin. Ihr Computerprogramm stellt sicher, daß ich bei fünf Prozent Zinsen von meinen Ersparnissen leben kann, sofern ich nicht mehr als sieben Prozent abhebe – eine Perspektive für nicht weniger als dreißig Jahre. Meine Ersparnisse plus das bißchen Rattenscheiße von Sozialversicherung: Beides zusammen würde für ein Überleben auf bescheidenstem Niveau reichen. Dank der Magie der programmmierten Arithmetik bleiben mir auf einen Schlag die Demütigungen der Suche nach einer festen Anstellung, die Abhängigkeit von Behörden und deren Bevormundung und Willkür erspart.

Es sieht so aus, als könnte ich für immer ungebunden und Künstlerin bleiben, eine emsige Schriftstellerin, frei von den Zwängen der Erwerbsarbeit. Am Ende frei – vorausgesetzt, ich begnüge mich mit dem absoluten Minimum. Aus dem Englischen von Karsta Frank

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