Molekulare Piraten im Körper

In der Molekularbiologie sind nicht immer „big science“ und „big money“ notwendig, um große Entdeckungen zu machen. Mit wenig Geld, aber mit Verstand und Phantasie fand ein amerikanisches Forscherehepaar den lang gesuchten Auslöser des gefürchteten Kaposi-Sarkoms  ■ Von Irene Meichsner

Es ist eines der spannendsten Felder der modernen Krebsforschung. Schätzungsweise fünfzehn Prozent aller Krebsgeschwülste werden durch Viren ausgelöst, darunter auch Formen von Leber- und Gebärmutterhalskrebs. Nimmt man die nichtviralen Infektionen hinzu, etwa durch Bakterien oder Wurmparasiten, liegt der Anteil sogar noch höher. Doch die Tumorvirologie eignet sich kaum für große Schlagzeilen. Denn keinesfalls darf man sich bei Krebsviren eine Ansteckung so simpel vorstellen wie bei einer Grippe, wo fast schon ein Händedruck genügen kann. Das zeigt auch das zuletzt gefundene Tumorvirus, das Humane Herpesvirus 8 (HHV-8), für dessen Entdeckung den Amerikanern Yuan Chang (38) und Patrick S. Moore (42) erst vor kurzem der Robert-Koch-Preis, mit 120.000 Mark einer der höchstdotierten Wissenschaftspreise, verliehen wurde.

Vor vier Jahren äußerte das Forscherehepaar zum ersten Mal den Verdacht, HHV-8 könne der Auslöser des Kaposi- Sarkoms sein, einer ehemals seltenen, 1872 von dem österreichisch-ungarischen Dermatologen Moritz Kaposi entdeckten Form von Krebs, die sich seit Anfang der achtziger Jahre unter HIV-Infizierten epidemisch ausbreitete. Heute bestehen an einem ursächlichen Zusammenhang kaum noch Zweifel. Wolfgang Hilger, Vorsitzender der Robert-Koch-Stiftung und früherer Vorstandsvorsitzender der Hoechst AG, sprach bei der Preisverleihung von einer „Pioniertat der Tumorvirologie“. Forscher aus aller Welt untersuchen am Beispiel des Humanen Herpesvirus 8 inzwischen die Mechanismen, wie Krebs nicht nur durch Mutationen entstehen, sondern auch durch Viren ausgelöst werden kann.

HHV-8 ist mit allenfalls hundert Millionstel Millimetern kaum größer als der gewöhnliche Herpes-simplex-Erreger, der uns unter anderem die lästigen Lippenbläschen beschert. Aber der äußere Anschein trügt. Denn es steht bereits fest, daß dieses jüngste Mitglied der weitverzweigten Herpesfamilie über einzigartige Eigenschaften verfügt. Wie ein Dieb scheint es sich im Laufe der Zeit Schlüsselfunktionen seines menschlichen Wirts einverleibt zu haben, die ihm gleichsam die Tore öffnen, um gesunde Körperzellen in wuchernde Krebszellen zu verwandeln. Chang und Moore sprechen von „molekularer Piraterie“: Die Evolution habe HHV-8 geradezu „maßgeschneidert“, um zentrale Zellfunktionen zu erobern und dabei jene Botenstoffe auszuschalten, die normalerweise ein unkontrolliertes, zur Tumorbildung führendes Zellwachstum unterbinden.

Nur von zwei anderen Krankheitserregern, darunter das gefürchtete Pockenvirus, kannte man ein annähernd vergleichbares Maß von Anpassung oder „molekularer Mimikry“. Viele Einzelheiten über die Ansteckungswege und –mechanismen liegen noch im Dunkeln. Doch HHV-8 fand sich in fast allen Kaposi-Sarkomen sowie zwei seltenen Lymphomen – Wucherungen des Lymphgewebes –, eines von ihnen eine Aids-Begleiterscheinung.

Personen mit einer geringen Anfälligkeit für KS sind auch seltener mit dem Humanen Herpesvirus 8 infiziert. Insofern glaubt der Epidemiologe Patrick Moore, „mit Überzeugung sagen“ zu können, daß es zwischen HHV-8 und Kaposi-Sarkomen wirklich „eine kausale Beziehung gibt“. Allerdings werde es für ihn „zunehmend deutlicher, daß man von unterschiedlichen Kausalitätsebenen ausgehen muß“. Wie löst das Humane Herpesvirus 8 Krebs aus? Welche Bedingungen sind dafür noch erforderlich? Welche Therapien bieten sich an? Und warum bekommt nicht jeder, der latent mit HHV-8 infiziert ist, auch ein Kaposi-Sarkom?

Ganz ähnliche Fragen hatte schon das Epstein-Barr-Virus (EBV) aufgeworfen, das unter anderem für das Burkitt-Lymphom, eine seltene Lymphgewebe-Wucherung, mitverantwortlich ist und ebenfalls der Herpesfamilie angehört. Rund achtzig Prozent der Bevölkerung sind mit diesem Virus infiziert. Trotzdem richtet es nur relativ selten Schaden an. Offenbar werde es vom Immunsystem in Schach gehalten, so daß sich ein Gleichgewicht zwischen Wirt und Virus einstelle, meint George Klein (73) vom Stockholmer Karolinska-Institut, der seit Jahrzehnten die Zusammenhänge zwischen Krebs und Viren erforscht und dafür mit der Robert- Koch-Medaille in Gold geehrt wurde: Erst wenn diese „Balance“ gestört werde, könne das Virus die Oberhand gewinnen.

Dabei aktiviert das EBV, wie Chang und Moore erstaunt feststellten, offenbar dieselben Gene in seinen menschlichen Wirtszellen, die sich das Kaposi-Virus einst „gestohlen“ hat, um zelluläre Kontrollmechanismen außer Kraft zu setzen. Demnach können bestimmte Viren nicht nur Krebs auslösen: Sie können ihr Ziel – die Zellteilung anzuheizen und den normalen Zelltod zu verhindern – auch auf ganz unterschiedlichen Wegen erreichen.

Manches spricht sogar für die verblüffende Hypothese, daß die Fähigkeit des HHV-8 zu „molekularer Mimikry“ für Aidskranke auch von Vorteil sein könnte. Denn zu dem „Diebesgut“, das HHV-8 seinem Wirt einst entwendete, scheinen auch Signalstoffe zu gehören, die HI-Viren daran hindern können, in bestimmte Hirnzellen einzudringen. Erkranken Aidspatienten, die zugleich mit dem Humanen Herpesvirus 8 infiziert sind, womöglich seltener an der für Aids typischen Demenz? Norwegische Forscher sichteten unlängst entsprechende Daten: Tatsächlich hatten Langzeitüberlebende häufiger ein Kaposi-Sarkom durchgemacht als HIV-Infizierte, die an den Folgen von Aids schon nach wenigen Jahren starben.

Anfängliche Befürchtungen, HHV-8 könne so weit verbreitet sein wie der allgegenwärtige Herpes-simplex-Erreger, bestätigten sich nicht. Daß vornehmlich Homosexuelle unter den HIV-Infizierten betroffen sind, spricht dafür, daß der Erreger vor allem beim Geschlechtsverkehr übertragen wird. Sogar die Chancen für eine Gentherapie von Kaposi-Sarkomen haben US-Mediziner schon ausgelotet.

Dabei geht es in den Forschungen, die Yuan Chang und Patrick Moore so erfolgreich vorangetrieben haben, längst nicht mehr nur um Krebs: Viele Forscher sind inzwischen überzeugt, daß man mit den neuen molekularbiologischen Methoden, die sie bei ihrer Suche nach dem Auslöser des Kaposi-Sarkoms verwendet haben, schon bald weiteren Krankheiten auf die Spur kommen wird, bei denen ebenfalls die Beteiligung eines „infektiösen Agens“ vermutet wird – bis hin zum Typ-1-Diabetes und Autoimmunkrankheiten wie multipler Sklerose. Auch beim Kaposi-Sarkom sprach rein epidemiologisch schon alles für eine – von Aids begünstigte und zugleich verdeckte – Infektionskrankheit, als Chang und Moore mit ihrer Arbeit begannen: Das Risiko für HIV-Infizierte, am KS zu erkranken, war 20.000mal größer als in der Allgemeinbevölkerung und immer noch siebzigmal höher als bei Menschen mit einem aus anderen Gründen geschwächten Immunsystem. Doch hatte sich der mutmaßliche Erreger allen Versuchen, ihn zu kultivieren, hartnäckig widersetzt. Darum beschlossen die beiden, an vermutlich infiziertem Tumorgewebe eine neue Methode auszuprobieren.

Grob gefaßt, funktioniert dieses Representational Difference Analysis (RDA) genannte Verfahren so ähnlich, wie man es aus der Mengenlehre kennt: Es gilt, die Restmenge zu ermitteln, in der sich zwei sonst vollkommen gleiche Grundmengen voneinander unterscheiden. Es war die sprichwörtliche Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen: Die Forscher glichen DNA-Sequenzen aus gesundem und tumorkrankem Gewebe solange gegeneinander ab, bis sie aus dem Tumorgewebe eines 45jährigen Aidspatienten eine winzige „Restmenge“ an Erbsubstanz fischten, für die sich im gesunden Gewebe keine Entsprechung fand.

Das sei etwa so ähnlich gewesen, „als würde man zwei ansonsten identische Bücher miteinander vergleichen, von denen eines über ein zusätzliches Wort verfügt“, sagt Yuan Chang, um einen Eindruck von dem unvorstellbaren Meer menschlicher DNA zu vermitteln, aus der sie schließlich die ersten Gen-Fragmente des mutmaßlichen KS-Erregers isolierten. Ausgehend von weniger als einem Prozent des gesamten Virusgenoms konnten die Wissenschaftler mit Standardtechniken weitere Virusteile bestimmen, der Erreger ließ sich eindeutig der Herpesfamilie zuordnen.

Daß sich dafür anfangs weder die Aids- Stiftung, von der sie finanzielle Unterstützung erbaten, noch das Fachmagazin Science interessierten, dämpfte ihren Eifer kaum. 1996 war HHV-8 fast vollständig entziffert. Erst kürzlich wurde der Columbia University ein Patent auf die wesentlichen Gensequenzen erteilt, das neben einem Testverfahren auch Methoden für die Entwicklung eines Medikaments und eines Impfstoffs umfaßt. „Es wäre nicht überraschend, wenn auf diese Weise weitere Krebserreger entdeckt würden“, meinte Hilger in seiner Bonner Laudatio.

Dabei wertet die in Taiwan geborene Yuan Chang ihren spektakulären Forschungserfolg im nachhinein nicht zuletzt als Beleg dafür, daß in der Molekularbiologie auch zu „großen“ Entdeckungen nicht mehr zwangsläufig „big science“ und „big money“ gehören. Sie war frischgebackene Assistenzprofessorin an der Columbia University in New York, als sie sich 1993 an die Arbeit machte: „Mein Antrittspaket beinhaltete einen Laboranten, 15.000 Dollar für Ausrüstung und ein zweihundert Quadratfuß großes Labor, von dem mein Vorgesetzter stolz erklärte, daß es kleiner sei als die meisten öffentlichen Toiletten. Sie können sich vorstellen, daß ich unter diesen Umständen kreativ sein mußte.“ Später bedurfte es – außer einem scharfen Verstand, viel Phantasie und etwas Glück – nur öffentlich zugänglicher Gen-Datenbanken sowie einer PCR-Maschine, die noch winzigste DNA-Fragmente beliebig vervielfältigen konnte.

Vor wenigen Tagen veröffentlichte Forschungsergebnisse aus der Schweiz weisen darauf hin, daß besonders für Organempfänger ein erhöhtes Risiko besteht, an einem durch den Herpesvirus ausgelösten Kaposi-Sarkom zu erkranken. Sollten die Schweizer Forschungen bestätigt werden, müßte künftig jedes Spenderorgan auf eine Herpesinfektion hin untersucht werden.

Die Isolierung des Humanen Herpesvirus 8 scheint sich mittlerweile als ähnlicher Meilenstein zu erweisen wie 1983 die Entdeckung des Helicobacter pylori, des berüchtigten „Magenbakteriums“, das für Magengeschwüre und –krebs verantwortlich gemacht wird. Insofern ist auch der Robert-Koch-Preis hochverdient, der als „deutscher Nobelpreis“ gilt und schon manchem späteren Nobelpreisträger verliehen wurde.

Irene Meichsner, 46, arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in Köln.