piwik no script img

Verschollene Heimat

Vor 22 Jahren flohen Elisa und Guillermo Cornejo- Campos vor dem Regime des chilenischen Diktators Augusto Pinochet in die Bundesrepublik. Ihr Sohn Raul ist seither verschwunden. Nun haben sie Strafanzeige gegen den 82jährigen Despoten gestellt. Wie sie Allendes Wahl, den Militärputsch und die Jagd auf Oppositionelle erlebten, berichtet  ■ Silke Mertins

Die Drei-Zimmer-Wohnung in der Hochhaussiedlung im Hamburger Stadtteil Hoheluft ist klein und schlicht. Elisa Campos, 70, rückt die Kissen auf der Couchgarnitur zurecht und setzt sich. Ihr Mann Guillermo Cornejo, 73, hat es sich im Sessel bequem gemacht und die Hände über den Bauch gefaltet. Das Licht aus zwei babyblauen Lampenschirmen beleuchtet die Fotos an der Wohnzimmerwand nur spärlich. „Acht Enkel und einen Urenkel haben wir“, sagt Elisa mit Blick auf den Wechselrahmen.

Die Bilder ihres Sohnes Raul liegen auf dem gefliesten Tisch vor ihr. 29 Jahre war er alt, als der chilenische Diktator Augusto Pinochet 1976 den linken Aktivisten, wie viele hundert andere, verschwinden ließ.

Auch heute noch ist die Frage für die Familie so drängend wie damals: Was ist mit Raul nach seiner Verhaftung passiert? Wann ist er gestorben, wo wurde sein Körper verscharrt? „Wir wollen wissen, wo unser Sohn ist“, sagt Elisa. „Pinochet ist uns eine Antwort schuldig. Wir wollen Gerechtigkeit.“

Das Ehepaar hat Anfang des Monats Strafanzeige gegen den inzwischen 82jährigen chilenischen Ex-Diktator erstattet – wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Freiheitsentzug und schwerer Körperverletzung. Kein sehr aussichtsreiches Unterfangen, aber es ist immerhin eine kleine Genugtuung, daß der Mann, dessen Truppen Chile terrorisierten, erstmals damit rechnen muß, für seine Bluttaten auch einstehen zu müssen. 3.000 Menschen haben er und seine Militärs auf dem Gewissen, reumütig zeigt er sich bis heute nicht.

Mit Pinochets Militärputsch 1973 endete in Chile nach nur drei Jahren die Regierungszeit des ersten demokratisch gewählten, dazu linken Präsidenten: Salvador Allende. Der Politiker mit der dicken Hornbrille hatte den Versuch unternommen, sein Land auf freiheitlichem Wege in den Sozialismus zu führen – ohne Parteienverbot, ohne Pressezensur, ohne Reisebeschränkungen und ohne Verhaftungen Andersdenkender. „Wir haben gejubelt, getanzt und gefeiert“, erinnert Guillermo Cornejo den Tag des Wahlsieges. Tausende von Menschen zogen durch Santiagos Straßen bis zum Präsidentenpalast. „Allende war unsere Hoffnung.“

Daran änderte sich auch nichts, als Kapitalflucht und ein Boykott der US-Konzerne die ökonomische Lage dramatisch verschlechterten. Elisa Campos organisierte das Schlangestehen. Abwechselnd warteten die Familienmitglieder vor den Geschäften auf Brot, Milch, Fleisch und andere Grundnahrungsmittel. „Wir haben das nicht Allende angelastet. Die USA waren ja Schuld“, sagt Elisa, „die waren gegen uns.“ Dennoch: Frust machte sich im Land breit, auch bei den Wählern Allendes. Der Militärputsch lag bereits in der Luft. Der Präsident überlebte das Experiment der gewaltlosen Revolution nicht.

Als Guillermo Cornejo, der als Schlosser in einer Fabrik arbeitete, am 11. September frühmorgens von der Nachtschicht kam und sich schlafen legte, wußte er noch nicht, daß die Armee im Morgengrauen bereits die Hafenstadt Valparaiso, Allendes Geburtsort, gestürmt hatte. Um elf Uhr rollten die Panzer in das Zentrum Santiagos. Elisa Campos weckte ihren Mann. „Steh auf, es hat einen Putsch gegeben.“ Eine Stunde später wurde der Amtssitz Allendes bombardiert.

Im Haus der Familie Cornejo-Campos trafen Nachbarn, Bekannte und Parteifreunde der beiden Söhne Sergio und Raul ein. Die Brüder, die noch studierten, waren in der „Bewegung der revolutionären Linken“ (MIR) aktiv. „Alle warteten darauf, daß Allende Waffen ausgab, um die Demokratie zu verteidigen“, sagt Elisa. Doch die kamen nicht. Allende blieb bis zu seinem Ende gewaltfrei und verfassungstreu. „Er wollte keinen Bürgerkreg.“

Die einzelnen Bezirke wurden abgesperrt, alle Nahrichtenquellen gekappt. „Wir waren völlig isoliert.“ Verzweifelt wurden nun Verstecke für die militanten Linken gesucht. Raul ging in den Untergrund. Sein jüngerer Bruder Sergio kam bei Freunden unter und flüchtete später in den Norden, von dort nach Peru, dann nach Kuba, später in die DDR. Heute lebt auch er in Hamburg.

„Vier Tage nach dem Putsch kam Raul nach Hause, um zu duschen und seine Kleider zu wechseln“, sagt der Vater. „Daran erinnere ich mich gar nicht“, protestiert Elisa. „Doch!“ Guillermo Cornejo ist sicher. Auch in den nächsten Monaten hatte er über Verbindungsleute noch Kontakt zu seinem Sohn. Der mischte nun auch politisch mit. In Konservendosen mit der Aufschrift „Chinesisches Schweinefleisch“ wurden Flugblätter, Parteimaterial und Dokumente versteckt. Vater Cornejo, der Schlosser, schweißte sie zu.

Die erste Verhaftung kurz nach dem Putsch überstand Guillermo, damals knapp fünfzig Jahre alt, noch relativ unbeschadet. Das zweite Mal kam Pinochets berüchtigter Geheimdienst DINA. Wo ihr Sohn Raul ist, so die Eltern, wüßten sie nicht. Sie hätten ihn schon lange nicht mehr gesehen. Guillermo Cornejo war gerade beim Essen. Er mußte bald zur Schicht. „Arbeiten brauchst du nicht mehr“, ließ man ihn wissen, „du verfluchter alter Lügner.“ Beide Eltern wurden verhaftet. Gefesselt und mit verbundenen Augen führte man sie ab.

Kaum im Gefangenenlager angekommen, wurde Guillermo nackt an ein eisernes Bettgestellt gekettet. Ein mit einer Kurbel betriebener Generator erzeugte Elektrizität. Mit dem Kabel, an dessen einem Ende Drähte heraushingen, wurden Stromstöße durch Cornejos Körper gejagt. „Sag uns, wo dein Sohn ist.“

Nebenan saß Elisa Campos in einer Zelle und hörte die Schreie. „Du kannst deinem Mann helfen“, sagten die Folterer, „wenn du uns sagst, wo dein Sohn ist.“

Vater Cornejo sollte während der Elektroschocks mit den Augen zu verstehen geben, wenn er zum Reden bereit war. Einige Male gehorchte er, „um eine Pause zu haben.“ Doch dann sagte er nur: „Ich habe keine Ahnung.“ Anderthalb Stunden dauerte die Tortur. „Dann waren sie müde.“ An den Tagen danach wurde er „nur“ geschlagen. Später führten Pinochets Handlanger ihn hinaus in den Hof. „Wir fragen dich jetzt ein letztes Mal: Wo ist dein Sohn?“ Das Gewehr polterte los. Die Kugel zischte über Guillermo Cornejos Kopf hinweg. Eine Scheinhinrichtung.

Seine Frau war in einer Zelle mit mehreren Dutzend anderen Gefangenen untergebracht. Die Folterkammer war gleich nebenan. „Wir haben Tag und Nacht Schreie gehört.“

Nach zehn Monaten wurden die Cornejo-Campos freigelassen.

Es klingelt. Besuch. Patricio, einer der beiden jüngeren Söhne, kommt herein. Elisa Campos freut sich über den Übersetzungshelfer. Im Deutschen fühlt sie sich auch nach über zwei Jahrzehnten nicht heimisch. Kaffee? Guillermo Cornejo steuert die Küche an. Oder ein Vino? Chilenischer, natürlich. Gibt es übrigens im Penny für 4,99 Mark. Und sehr lecker. Nein? Auch kein Vinito? Na, also!

Rauls Bilder werden zur Seite geschoben, Gläser und Tassen auf den Wohnzimmertisch gestellt. Elisa sucht das Foto von der Ankunft in Frankfurt am Main. Der Sturz Allendes, des Hoffnungsträgers von vielen Linken in aller Welt, löste eine internationale Solidaritätswelle aus. Eine deutsche Frauengruppe, die sich für verfolgte Chileninnen einsetzte, bot Elisa Campos damals an, sie in die Bundesrepublik zu holen.

Noch während der Ausreisevorbereitungen der Familie wurde Sohn Raul verhaftet. Mit 29 anderen bedrohten Chilenen war er in das bulgarische Konsulat geflüchtet; ein Gebäude, das von dem österreichischen Botschafter verwaltet wurde. Und der rief die Polizei.

Anläßlich einer internationalen Konferenz in Chile ließ Pinochet politische Gefangene frei. Auch Raul Cornejo war darunter. Die Haftentlassenen stiegen in einen normalen Bus. Zufällig saß in diesem Bus sein jüngerer Bruder Patricio. „Was machst du denn hier?!“ Raul legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Siehst du das Auto? Wenn ich gleich aussteige, sammeln die mich wieder ein.“ Patricio ist der letzte aus der Familie Cornejo-Campos, der Raul lebend sah.

Der Rest der Familie – Mutter, Vater und die beiden jüngsten Söhne Patricio und Eugenio – mußte dringend außer Landes. Mutter Elisa schrieb der deutschen Frauengruppe: Ich möchte kommen, aber nicht allein. Entweder mit meiner Familie oder gar nicht. Die Antwort: Alles klar.

Als die vier am Frankfurter Flughafen landeten, wartete schon ein kleines Empfangskomittee: Tom Koenigs, später grüner Stadtkämmerer von Frankfurt; Ingeborg Glock, heute besser als Satirikerin Fanny Müller bekannt; und ein Anwalt von amnesty international. „Wir konnten zwar kein Wort deutsch, und alles war sehr fremd“, sagt Elisa, „aber trotzdem kam es uns wie das Paradies vor.“ Zunächst fand man in Tom Koenigs Wohngemeinschaft Unterschlupf. Da wohnte übrigens auch ein Joschka, „du weißt schon, der der jetzt regiert“.

Elisa Campos wollte schon immer in einer Hafenstadt wohnen. Also zog es ihre Familie nach Hamburg. Ihr Mann fand Arbeit als Schlosser. Nachdem Sergio aus der DDR in die Bundesrepublik kam, war die Familie wieder zusammen.

Bis auf Raul.

Jahrelange Bemühungen zu erfahren, was mit ihm und den anderen Verschwundenen geschehen ist, blieben ohne Erfolg. Mit deutschem Paß machte sich das Ehepaar 1991 noch einmal auf in die alte Heimat. „Ich war enttäuscht“, sagt Elisa. „die meisten wollten von der Vergangenheit nichts mehr wissen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen