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Man muß schmunzeln können

Wenn das Eis von den Wänden bröckelte. Niklas Luhmann konnte das Klima einer durch Wissen gedeckten Provokation erzeugen. Eine persönliche Erinnerung an den großen Soziologen und Menschen Niklas Luhmann, der am 6. November gestorben ist  ■ Von Peter Fuchs

Ich erinnere mich gut, daß ich bei den ersten Begegnungen mehr als frappiert war, wenn man mir sagte, der Meister komme gleich, sei schon auf dem Wege, und dann kam er, leicht gebeugt, sehr beamtenhaft, sehr höflich, sehr aufmerksam und: sehr gehemmt. Diese Hemmung löste sich, sobald es um die Sache ging, dann waren Humor, Witz, trockene Ironie möglich, aber sie war gleichwohl immer spürbar, so sehr, daß nicht nur ich ein Gefühl der Peinlichkeit hatte, wenn ihm jemand hemdsärmelig, schulterklopfend, jovial, unbekümmert zu nahe kam.

Die Hemmung war keineswegs Ausdruck von Bescheidenheit. Mühelos konnte er sagen: „Kant und ich...“ oder „Ich und Hegel...“; mühelos konnte er ihm angetragene Vergleiche zu gleichzeitig existierenden Wissenschaftlern, Philosophen, Intellektuellen als ungehörig abweisen, als im Maßstab unangemessen, als Zumutung. Er war sich seiner Bedeutung zweifelsfrei sehr bewußt, und einiges spricht dafür, daß es dabei um epochale Bedeutung ging. Sein Charme bestand in der Kombination dieses Bewußtseins mit, sagen wir, dem Nichtbewußtsein der Anmaßung. Er konnte Sätze sagen (und schreiben), die lange Traditionen und Denkgewohnheiten aushebelten oder umstellten, er tat es klar, ohne Sentimentalität, die seine Sache nicht war, und präzise, aber so, als ob nichts dabei sei. Andere hätten zur Erfindung einiger dieser Sätze ganze Lebenszeiten investieren müssen. Er konnte sie streuen, unbekümmert darum, daß er hätte bestohlen werden können. Andere wuchern mit einem Gedanken ein Leben lang – eifersüchtig. Er sagte seine subversiven Sätze, er schrieb sie und drehte sich um, zu nächsten Sätzen dieser Art übergehend, allenfalls ein Lächeln in den Augenwinkeln, aber offenbar ohne den geringsten Sinn für die Sprachlosigkeit der anderen, die (mitunter hechelnd) zu folgen versuchten.

Er war, soll das heißen, in einem geradezu unglaublichen Ausmaß kreativ, ein Vulkan im Gewand, im Fleisch eines preußischen Ministerialbeamten, in der Disziplinierung dieser Kraft ähnlich genau und beständig wie Kant, jener andere Alleszermalmer. Gewiß reiste er weitaus mehr als Kant, aber wer in sein Bielefelder Büro kam, fiel in die Glanzlosigkeit der fünfziger Jahre und bekam es mit lauwarmem Tee zu tun, und wer mit ihm arbeiten wollte, kam um seinen langen, gleichmäßigen, durchstrukturierten Tag nicht herum.

Diese unglaubliche Kreativität auf dem Hintergrund einer weitaus mehr als traditionelle soziologische Wissensbestände umfassenden Bildung erzeugte um ihn herum, an seiner Fakultät, eine Art Loch. Mich haben die Schwierigkeiten der Fakultät mit Luhmann nie gewundert. Sie kennzeichnen die Tragik eines höflichen (ja mandarinhaften) Abgetan-Seins. Ein weiter entfernter, ein steinerner Gast aus Frankfurt hat dies auch erfahren müssen. Mehr als einer mag darunter gelitten haben und noch leiden.

Ich erinnere mich, daß er – ich war noch Student – mir antrug, mit ihm zusammen ein Buch über Reden und Schweigen zu schreiben. Feuer und Flamme, der ich war, schrieb ich ein mächtiges Exposé, meinte mein Bestes, mein Überzeugendstes zu geben. Er schickte mir eine kurze Notiz: „Anders als Herr Fuchs optiere ich dafür, einfacher anzufangen...“ Und skizzierte das Projekt unvergleichlich einfacher und punktgenauer auf einem Zettel, Liebhaber der Zettelwirtschaft, der er war, nicht nur hinsichtlich seiner voluminösen Denkmaschine, seines Zettelkastens, sondern überall aus Zetteln heraus arbeitend. Für Vorträge genügten ihm kleine Abrisse aus braunem Packpapier. Für mich jedenfalls war dieses „Anders als Herr Fuchs...“ der härteste Denkzettel, den ich erhalten habe. Das war nicht ein „Anders als Sie...“ oder „Im Gegensatz zu Ihnen...“. Das war Extremdistanzierung. Die Sache sprach, und die Sache ließ keine Nähen zu. Wurde die Sache nicht getroffen, stellte sich Schweigen ein. Auf Vorschläge, Manuskripte, die man ihm schickte, reagierte er oder nicht. Wenn nicht, war ein Urteil gefallen. Daran gewöhnt man sich schwer.

Ein Meister war er, der, so schien es, kein persönliches Leben hatte (eine Verkörperung der Theorie), fern aller Praxis, der gleichwohl Regenschirme, Telefone, die Suppe der Hausfrau, die Türklingeln beobachtete, die ihm dann als schlagende Beispiele dienten. Zum Vollzug und zur Feier meiner Promotion kam er nach Gießen in seinem alten Volvo (einmal war ich anwesend, als er mit der Werkstatt um den Preis neuer Reifen feilschte, und wie er das konnte!) und stieg dann um in das offene Cabriolet eines dortigen Soziologen. Das war ein beinahe lächerlicher Kontrast, hier der Chic und die Kraft, dort Luhmann in einer seiner immer ein wenig speckig anmutenden Jacken, völlig fremd, ein Fremder, den niemand, der ihn nicht kannte, für jemand Außerordentlichen gehalten hätte – es sei denn, er hätte ihn reden hören können.

Ich weiß nicht, woran das lag, aber (und ich darf das so sagen, weil er selbst die Paradoxien liebte) er war ein glänzender Redner, weil er kein glänzender Redner war. Sein Erfolg – er füllte jede Halle – ergab sich weniger aus der Machart des Redens, aus der Rhetorik, sondern aus dem, was er sagte, und wie scheinbar harmlos er es sagte, wie er unprätentiös, beinahe in Nebensätzen, die Dinge auf den Kopf stellte, wie er das erzeugte, was er selbst eine inkongruente Perspektive nannte, das Klima der scharfen Provokation des Althergebrachten, aber eben das Klima einer durch Wissen gedeckten Provokation, manchmal ein Klima, bei dem das Eis von den Wänden bröckelte.

Im Gegenzug habe ich kaum etwas öfter von ihm gehört als den Satz „Das weiß ich nicht ... ich muß es prüfen.“ Er prüfte dann auch. Eigenhändig. Ich war einige Zeit lang seine studentische Hilfskraft, zu dieser Zeit die einzige. Ich gebe zu, ich hatte wenig zu tun. Er ging lieber selbst, die Akkuratesse in Person. Die Bielefelder werden sich seiner erinnern als jemandes, dessen Sekretärin sagte, er sei in der Bibliothek und vorläufig nicht zu sprechen. Und das war keine Ausrede. Er war ein Professor, der arbeitete, kein Wissenschaftsmanager. Er hatte sein dreißigjähriges Projekt. Daher mochte es kommen, daß er die Moden nicht mitmachte, die der Didaktik, der Evaluation, der Effizienz. Er war schlichtweg unmodisch, auf der Höhe der Zeit neben ihr, ein in dieser Hinsicht schmunzelnder Beobachter. Sein Schmunzeln wird man nicht vergessen.

Trotz seiner Genauigkeit sagte er mitunter, man müsse schummeln können. Auch das sagte er schmunzelnd. Er meinte nicht den Betrug, er meinte den Mut zur Lücke. Die Zahl seiner Werke ist nicht anders zu erklären. Sie verdankt sich der Selektivität der Theorie, die er in ihnen entwickelt, also auch einem Auslassen, einem Das-andere-nur-streifen-Können. Wenn irgendeine Theorie das Bewußtsein der blinden Flecke jeder Theorie hat, dann diese: Sie beschreibt noch deren Funktion und Notwendigkeit, damit aber auch Kontingenz, einer seiner Lieblingsbegriffe, der ein Auch-anders- Möglich besagt. Alles ist anders möglich. Tausche die Unterscheidung des Beobachters aus, und eine andere Welt wird entstehen. Ob sie gescheiter ist, wird sich zeigen. Aber wer unter dieser Voraussetzung schreibt, muß springen, muß Lücken lassen können. Das ärgert, versteht sich, die alltägliche Wissenschaft, die die Siebenmeilenstiefel nicht schätzt. Jetzt erst ist die Stunde der Exegeten gekommen. Sie wird lange währen.

Luhmann, der Theoretiker mit Siebenmeilenstiefeln, war (anders, als man es sagt) nicht dogmatisch. Sein Bewußtsein der dritten Werte, des Ausgeschlossenen im Eingeschlossenen, sein Bewußtsein des Inkommunikablen war zu deutlich ausgeprägt. Es war die Kehrseite der Binarität seines Denkens, dieser strengen Seite. Er entdeckte für die Soziologie (die diese Entdeckung noch nicht recht zu würdigen weiß) George Spencer-Brown, diesen eigentümlichen Mystiker eines Unterscheidungskalküls, das den „unmarked space“, den „empty space“, ein „unwritten cross“, gar Unterscheidungsuntertunnelungen kennt und diese hohe Sonderaufmerksamkeit hat für das in jeder Bezeichnung Verschwindende. Wer die Masche strickt, strickt die Nicht-Masche mit, aber er kann sie nicht sehen; wir spülen Geschirr, aber kratzen dabei das Universum ab. Die Welt ist konditionierte Co-Produktion, sagt Spencer-Brown. Aber das kann ein Beobachter nur noch benennen, nicht mehr wahrnehmen. Aber was hat das mit der Gesellschaft zu tun? Luhmann führt es in seinem (nun doch) Opus magnum der Gesellschaftstheorie vor. Man muß die Beobachter beobachten, um zu sehen, was sie nicht sehen.

Das war und ist für die Soziologie schweres Brot. Luhmann ordnete sich diszipliniert dieser Disziplin zu; umgekehrt liegen die Dinge schwieriger. Man wird erwarten dürfen, daß die Zunft ihn in einen Klassiker transformiert. Diese Art von Sterilität hat er gefürchtet und gegeißelt. Glasperlenspiel, das sagte man seiner Theorie schon zu seinen Lebzeiten nach, neuerdings eine Akrobatik des Gehirns, die mit der realen Realität (was immer das sein mag) nichts zu tun hat. Akrobatik – auch dabei hätte er (der Griechisch konnte) geschmunzelt. Was heißt dies anderes, als auf der Spitze zu gehen? Scheinbar leicht und mühelos, in Wahrheit unter Anspannung aller Kräfte, nicht nur der kognitiven, vor allem auch der physischen. Eine asketische Existenz muß nicht schmerzfrei sein. Sie führt nicht unbedingt in Gesundheit. Ich habe ihn lehren und arbeiten gesehen unter Schmerzen und extremen Müdigkeiten. Er pflegte nicht zu schwänzen. Er hatte offenkundig ein Ziel.

Selten ist ein Ziel so verfolgt worden. So leidenschaftlich-trocken, so konsequent – bis hin zur Verkündung seines Erreichtseins. Als die „Gesellschaft der Gesellschaft“ 1997 erschien, bekamen diejenigen, die ihn kannten, Angst. Diejenigen, die ihn noch besser kannten, fürchteten um ihn schon nach der „Kunst der Gesellschaft“ (1995). Da war etwas auf die Spitze getrieben, der Schwäche abgerungen. Der Mythos lag und liegt nahe, der Werk und Leben identifiziert. Luhmann war die Theorie, die Theorie war Luhmann. Oder, so hätte er es sagen können (so hätte man es mit seiner Theorie sagen können): Luhmann schrieb die Theorie, die Theorie schrieb ihn. Darüber vergißt sich, daß Meister Menschen sind.

Ich weiß, daß er nicht so gern allein war, wie man (auf dem Hintergrund eigener Hemmungen) vermuten konnte. Man konnte ihn einladen, man konnte mit ihm über Familiäres sprechen, man konnte mit ihm Bier trinken. Man mußte sich nur trauen. Er konnte sich köstlich amüsieren, wenn er mich anrief, und eine meiner kleinen Töchter, die den Anruf entgegennahm, rief: „Da ist irgendein Luhmann am Apparat!“ Wer mit ihm Auto fuhr (man fuhr besser selbst), kennt Gespräche über Reifenhändler, aber auch über die Tücken der Verträge mit Verlagen. Als ich an der Galle erkrankt war, führte er lange Gespräche mit mir über Erkrankungen des Bauches, die er gut kannte. In Kenntnis meiner Lebenssituation überließ er mir das Honorar für das Buch „Reden und Schweigen“. Als ich studentische Hilfskraft war, war er darum bemüht, mir Stipendien zu verschaffen – sogar bei der Kirche. Ich besitze seine zynischen Kommentare zu dem Umstand, daß dies nicht gelang.

Er konnte nicht nur ironisch, er konnte auch zynisch sein. Die Moral(in)isten dieser Republik haßten ihn dafür. Überhaupt schieden sich die Geister an ihm (und das wird wohl lange so bleiben, wenn es gelingt, soziologische Mumifizierungsstrategien zu hintertreiben). Es gibt Haß, gewiß, aber auch (und ich sehe einige meiner Kollegen und Kolleginnen jetzt nicken): Liebe. Das ist selten, daß man einen Theoretiker auch so sehr mögen kann. Ich habe mich auf jedes Treffen mit ihm gefreut – tief drin, gegen das wissenschaftliche Verbot, kühl zu sein. Ich freute mich, daß es ihn gab. Zeitgenossenschaft bringt manchmal auch dieses Glück mit sich. Jetzt freue ich mich, daß es ihn gegeben hat.

Ein alter Mann sagte mir einmal, daß Geburten Anlaß zur Trauer, Beerdigungen Anlaß zum Beifall seien. Der Meister hätte an dieser kecken Vertauschung seine Freude gehabt. Er hat schließlich sein Werk getan.

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