„Unser Land muß sich uns zuwenden“

Obwohl Rußland Lebensmittelimporte kaum noch bezahlen kann, haben es einheimische Bauern schwer, ihre Produkte zu vermarkten. Die veralteten Strukturen behindern Privatbauern und Kolchosen gleichermaßen  ■ Von Barbara Kerneck

Der holländische Landwirt Johannes Panman (53) steht bis zu den Knöcheln im Schlamm vor einem Rohbau. „Das Wohnhaus“, sagt er, „muß in einem Monat fertig sein.“ „So bald schon?“ wundert sich sein russischer Mitarbeiter. Der Holländer zeigt keine Ungeduld. Er wußte, daß er mit Mentalitätsunterschieden zu rechnen haben würde, als er sich im vergangenen Frühling hier niederließ. In den Niederlanden war Panman Bauernverbandsvorsitzender der Provinzen Friesland und Flevoland, nun hat er in Rußland 650 Hektar Land gepachtet, nahe dem Städtchen Dmitrowsk, 80 Kilometer nördlich von Moskau. Wenn er seine Kartoffelernte betrachtet, ist Panmann mit seinem ersten russischen Halbjahr zufrieden.

Trotzdem gab es ein paar unliebsame Überraschungen. Zum Beispiel die Diebstähle auf seinen Kartoffelfeldern, die die Moskauer Presse zum Skandal hochspielte. „Zu Unrecht“, ärgert sich Panman: „Geklaut worden ist kein halbes Prozent meiner Ernte. Daß unter den Dieben allerdings auch Leute mit teuren Jeeps und BMWs waren, das hat mich schon gewundert.“ Der Holländer will in Rußland nicht nur Gewinn machen, sondern auch der Landwirtschaft helfen: „Es geht doch nicht an“, sagt er, „daß ein so großes Land nicht imstande ist, sich selbst zu ernähren.“ Die Rubelkrise hat es an den Tag gebracht: Die Russen waren in den letzten Jahren abhängig von westlichen Lebensmitteln geworden. 50 Prozent aller Waren in den Läden kamen aus dem Westen. Jetzt, da die Großhandelsunternehmen des Landes ihre Rechnungen im Ausland nicht mehr zahlen können, droht eine grausame Teuerung.

Den Hauptgrund für die Misere der russischen Landwirtschaft erblickt Panman in mangelnder Infrastruktur und Arbeitsorganisation. Schon in ein oder zwei Jahren hofft er, für seine Dmitrowsker Nachbarn ein Landmaschinen- Service-Zentrum eröffnen zu können. Was die Mentalität betrifft, entwickelte der Holländer sein eigenes pädagogisches Rezept: Für seine 15 russischen Angestellten hat er sich ein Punktesystem ausgedacht: „Wenn ich jeden entließe, der einmal betrunken zur Arbeit kommt, hätte ich bald keine Leute mehr“, sagt er. Aber wer schon tagsüber angesäuselt ist, dem werden 500 Rubel von dem für dörfliche russische Verhältnisse fürstlichen Monatsgehalt von 3.500 Rubeln (390 Mark) abgezogen. „Ich sehe jeden Tag Fortschritte“, sagt der Farmer: „Jeden Morgen um halb acht versammeln sich die Leute bei mir auf dem Hof. Vor einem halben Jahr dauerte es noch 45 Minuten, bis sie dann zu arbeiten begannen, heute nur noch fünf.“ Diesen Winter fahren Panmans Angestellte nach Holland – zum Praktikum.

Warum haben sogar wohlhabende Einwohner des Bezirks bei dem Holländer gestohlen? „Da muß wohl Neid im Spiel sein“, vermutet Dmitri Saranskich, selbst erfolgreicher Privatlandwirt im übernächsten Dorf. Wer hier über Land fährt, bekommt oft eine alte russische Fabel zu hören: „Einem russischen Bauern erscheint eine gute Fee. „Ich erfülle dir einen Wunsch“, sagt sie zu ihm: „Allerdings wird dein Nachbar genau das, was du dir wünschst, von mir doppelt bekommen.“ Der Mann überlegt kurz und antwortet: „Dann stich mir ein Auge aus!“

„Unsere landwirtschaftlichen Kooperativen sind eine einzige Fata Morgana“, spottet Juri Tschernitschenko, Vorsitzender der „Bauernpartei Rußlands“. Er will die neuen Privatunternehmer auf dem Lande vertreten. Die Grundlage zu ihrer Existenz schuf 1991 das „Gesetz über Grund und Boden“. Es erlaubt Kolchosenmitgliedern, ihren Bodenanteil aus der Kollektivwirtschaft herauszulösen. Trotzdem unterstehen 93 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche nach wie vor den Kolchosen oder Sowchosen. Die wurden zwar formell in Aktiengesellschaften umgewandelt, aber an ihrer Funktionsweise hat sich nichts geändert. „Da triumphiert die doppelte Buchführung“, verkündet Tschernitschenko: „Nie zurückgezahlte Kredite, heimlich gehaltene Kühe und ganze Felder, die man auf keinem Flurplan findet.“ Um zu begreifen, was auf dem Lande vorginge, meint er, dürfe man sich nicht nur in der Gegend um Moskau herum umsehen, sondern müsse in die tiefe Provinz fahren, zum Beispiel in den fruchtbaren südrussischen Schwarzerdgürtel.

„Auf den Wiesen, auf denen wir als Kinder spielten, gab es Hühner. Wir hatten Eier, Wolle, Beeren und Honig im Überfluß. Heute wuchern hier die Kletten“, berichten die Erwachsenen im Kolchos. Das Dorf Saretschje, in der Nähe der Kleinstadt Lebedjan im Lipezker Schwarzerdbezirk. Der Vorsitzende der Kolchose, Alexander Gubin, berichtet, wie sehr sich das Leben zum Schlechteren gewandelt habe. „Anfang der neunziger Jahre, als wir noch Häuser bauten, zogen jedes Jahr neue Flüchtlingsfamilien hierher“, erinnert sich Gubin: „Jetzt zieht die Jugend fort. Seit über einem Jahr müssen wir alle Löhne in Naturalien bezahlen. Geld bekommen unsere Mitglieder nur, wenn in ihrer Familie eine Beerdigung stattfindet, eine Hochzeit oder eine Geburt.“

Die Produktionsmittel dieser Kollektivwirtschaft sind alt und kaputt. „Den letzten Mähdrescher haben wir 1990 bekommen. Früher nahmen wir uns zwei neue vor jeder Ernte und jedes Jahr ein bis zwei Traktoren“, sagt der Vorsitzende. Die wie Wegwerfware verschlissenen Landmaschinen der Sowchose rosten in einem Tal vor sich hin. Die Einheimischen nennen es „Tal des Todes“. Gubin spricht nie von „Kaufen“ eines Traktors, er hat ihn „bekommen“ oder „genommen“. Bei der örtlichen Korporative, die Saatgut, Dünger und Diesel liefert und ihrerseits wieder Korn aufkauft, steht der Kolchos tief in der Kreide. Aber die Organisation ihrerseits zahlte dem Betrieb dieses Jahr auch nichts für jene Erträge, die sie nicht gegen die Schulden aufrechnen konnte.

„Die meisten Kolchosvorsitzenden sind hilflos, seit ihnen der Staat nicht mehr alles schenkt, was sie für ihre Produktion benötigten“, kommentiert Aleksej Chriptschenko, Direktor eines Lebensmittelkombinats in der Kreisstadt Lebedjan. Chriptschenko arbeitet mit allen umliegenden Kolchosen zusammen und kennt auch ein Gegenbeispiel: „Da ist so ein Leiter, der hat es in drei Jahren geschafft, seinen Betrieb zum Blühen zu bringen. Aber er ist bei seinen Leuten verhaßt, weil er sie zu sehr antreibt. Unsere Bauern hätten es am liebsten, wenn ihnen der Staat auch noch Milch und Fleisch in ihren Dorfladen lieferte.“

Wie einen Garten hegt der benachbarte Farmer Anatoli Podtschepajew seine 50 Hektar Grund und Boden. 120 weitere Hektar hat er dazugepachtet. 22 Jahre lang unterrichtete er in der Berufsschule – unter anderem Maschinenmechanik. Was im Sowchsos weggeworfen wurde, hat er gereinigt, geölt und für sich repariert. Die Lebensdauer einer Landmaschine im Kollektivbetrieb betrug drei Jahre. Aber Podtschepajew betreibt erfolgreich eine 23 Jahre alte Sämaschine und einen 18 Jahre alten Mähdrescher.

Obwohl er nur einen Nordhang und eine Schlucht erwerben konnte, machte er sich 1991 mit Enthusiasmus ans Werk. Sehr zur Hilfe kam ihm – wie allen russischen Landwirtschaftspionieren seiner Generation – ein staatlicher Kredit mit günstigen Zinsen. Inzwischen hat der Staat jegliche Hilfe für das Dorf eingestellt. „Was ich geleistet habe, könnte ich unter den heutigen Bedingungen nicht wiederholen“, sagt Podtschepajew und läßt seine Arme hängen. Trotzdem erntet er pro Hektar immer noch doppelt soviel Korn wie der benachbarte Sowchos. Aber auf 16 Tonnen Roggen hat ihn die örtliche Großhandelskooperative letztes Jahr sitzenlassen.

Als „typisch“ bezeichnet der Moskauer Professor für Agrarrecht Grigori Bystrow die Schwierigkeiten Podtschepajews mit dem Absatzmonopol: „Aber was wollen Sie so schnell erwarten? Immerhin, 280.000 Farmer beackern ihren Boden in Rußland heute auf eigenes Risiko. Wenn man denkt, daß hier vor zehn Jahren noch nicht ein bäuerlicher Privatunternehmer existierte, dann ist das ein großer Sprung nach vorn!“ Leute wie der Jurist Bystrow hoffen, die Rubelkrise möge die Parlamentarier in Moskau in der Landwirtschaftspolitik zur Vernunft bringen. Denn Grund und Boden darf man heute in Rußland zwar besitzen, aber nicht verkaufen – und dementsprechend auch nicht beleihen. In der neuen Krise müßten die Abgeordneten Farbe bekennen, meint Bystrow: „Wenn hinter dem Rubel der Wert von Grund und Boden stünde, würde unser Geld dadurch gekräftigt wie durch eine Goldreserve.“

Der Farmer Podtschepajew dagegen ist da skeptisch: „Sobald irgendeine Institution in unserem Lande neu eingeführt wird, finden sich immer gleich Leute, die sie mißbrauchen.“ Podtschepajew fürchtet sich vor wilden Bodenspekulationen. Und das Bedürfnis, eine Hypothek aufzunehmen, verspürt er nicht: „Da müßte man doch wahnsinnig sein“, meint er, „angesichts unserer bankrotten Banken.“ Materielle Hilfe für seinen Betrieb, die könnte er allerdings schon gebrauchen. Und außerdem ein vernünftiges Steuergesetz, gute Straßen und neue Absatzmöglichkeiten, um seinen heute unwillkommenen Roggen an den Mann zu bringen. „Meine Seele ist für die Erde entbrannt“, klagt der Farmer: „Ich habe Rußland zu ernähren versucht, aber Rußland nimmt es mir nicht ab. Vielleicht bedarf es dieser schweren Krise, damit unser Land uns Produzenten auf der Scholle wieder sein Gesicht zuwendet?“