Angstszenen aus Delmenhorst

■ „Sie sind auf Echt-Zeit Ihres Lebens“: In einer bemerkenswerten Ausstellung in der Städtischen Galerie verliert sogar der Satz „Das ist nur Film“ seine beruhigende Wirkung

ls neulich das Flüßchen Delme über die Ufer getreten ist, hat ein Seitenärmchen neben ungezählten anderen auch den Keller der Städtischen Galerie im Delmenhorster Haus Coburg überschwemmt. Der Schaden war groß und die Bevölkerung erschrocken. Doch im sarkastischen Sinn hätte es keinen günstigeren Zeitpunkt für die Flut geben können. Denn die Delme trat ausgerechnet an jenem Wochenende über die Ufer, als in der Städtischen Galerie unter dem Titel „Sie sind auf Echt-Zeit Ihres Lebens!“ eine Ausstellung über Schein und Sein, Lug und Trug in diesem unseren Medien- und Informationszeitalter eröffnet werden sollte und wurde.

Dabei hat Andy Warhol doch einmal gesagt: „Die mediale Wirklichkeit ist die eigentliche Wirklichkeit.“ Und Theoretiker wie Jean Baudrillard behaupten sogar, daß die Wirklichkeit sowieso nur noch medial oder virtuell sei. Spricht man aber Barbara Alms, die Leiterin der Städtischen Galerie in der alten Delmenhorster Villa, nach etwas Theorieauffrischung auf die echte Flut an, bemerkt sie die kleine rhetorische Falle sofort: „Beim Blut hört es auf“, zitiert sie Elfriede Jelinek. Will sagen: Existentielle Erfahrung überstrahlt alle Bilder im Kopf. Oder: Was ist schon das Fernsehbild einer Flut gegen einen vollgelaufenen Keller, Monsieur Baudrillard?

Trotzdem: Wer sich die gut konzipierte Ausstellung im Haus Coburg erläuft, spürt das Zugehagelt-sein mit Bildern und merkt, wie das Gehirn das nicht gleich Einzuordnende doch einzuordnen versucht. Da hängen etwa Fotos – ohnehin überwiegen Fotos – von Korpys und Löffler. Es sind Bilder von Einfahrten und Eingängen zu gesicherten US-Gebäuden wie dem Pentagon. Schwer, sie einfach zu betrachten. Denn sie rufen mit den Assoziationen Schnappschuß, Detektivbild und Thriller sofort Erinnerungen an Filme im Gedächtnis wach. Wie wohl jemand reagiert, der diese Form medien-vermittelter Wirklichkeit nicht kennt?

Wohl fast jeder kennt Röntgenbilder. Doch Via Lewandowsky zeigt sie neu. Einige Aufnahmen aus dem „Röntgenatlas der Kriegsverletzung 1914-16“ des Hamburger Sankt-Georgs-Hospitals hat Lewandowsky auf fast quadratmetergroßes Format gebracht. Diese geröteten Fotodrucke lassen selbst schlimmste Frakturen schaurig faszinierend bald als abstrakte Landschaften und bald als Explosionen erscheinen. „Sie sind auf Echt-Zeit Ihres Lebens!“ heißt die Ausstellung nach einer Videoinstallation von Elisabeth Schindler. Unbemerkt verstreicht nicht nur vor den Röntgenlandschaften eine Menge Betrachter-Echt-Zeit.

Mit direktem Zugriff auf die Magengrube wirkt Christoph Girardets neun Minuten lange Bearbeitung der Schreiszene aus einem „King Kong“-Film. In einem ausgeklügelten Stakkato aus Bildwiederholungen und hochdramatischer Schnittechnik treibt er die Inszenierung dieses Angstschreis auf die Spitze. Girardets Montage überhöht mit der püppchenhaften Geste der Darstellerin und dem unpüppchenhaften Schrei beide Extreme. So künstlich die Geste wirkt, so ungespielt natürlich wirkt plötzlich die Angst. Im Angesicht dieses Horrors verliert sogar die Selbstberuhigung „Das ist nur Film“ ihre Wirkung.

„Im Gegenwärtigen ankommen“ möchte Barbara Alms mit dieser Schau. Es ist ihr in dieser bemerkenswerten Ausstellung gelungen. Neben den genannten machen es KünstlerInnen wie Sylvie Fleury mit Warhol'esker Werbungskunst, Andreas Gursky mit einer Fotoarbeit, Thomas Huber mit Bildern einer virtuellen Stadt sowie Ludger Gerdes mit seiner ins Monumentale ausufernden und hervorragenden Fotoarbeit „Öffentlicher Raum – Privater Blick“ von Plätzen, Gebäuden und Städten möglich. ck

„Sie sind auf Echt-Zeit Ihres Lebens!“ bis zum 13. Dezember in der Städtischen Galerie Delmenhorst, Fischstraße 30; Öffnungszeiten: Di.-So. 10-17, Do. 10-20 Uhr