■ Selbstmordwelle: „Hör zu“ schafft „Original und Fälschung“ ab
: Ausgegrenzte Greise wehren sich

Im Hof des Plettenberg-Stifts, einem landschaftlich gut eingepaßten Seniorenheim in Bielefeld- Sennestadt, schrubbt eine Putzfrau einen dicken Blutfleck weg. Hier ist am frühen Morgen eine Greisin aus dem dritten Stock in den Tod gesprungen. Der Nachwelt hinterlassen hat sie eine aufgeschlagene Hör zu und einen kurzen Abschiedsbrief: „Seit mehr als dreißig Jahren habe ich Original und Fälschung die Treue gehalten. Jetzt hat man die Seite rausgeschmissen. Lieber möchte ich tot sein als ohne diese Kolumne weiterleben. Ich kann es nun nicht mehr. Adieu!“

Ein Einzelfall? Mitnichten. Seit die Redaktion der Hör zu im Rahmen einer radikal neuen Layout-Konzeption die Rubrik „Original und Fälschung“ abgeschafft hat, rollt eine Selbstmordwelle durch Deutschlands Altersheime. Im Altenstift Schloß Elmischwang bei Augsburg nahm ein 92jähriger Hör zu-Leser den Toaster mit in die Badewanne, in der Hamburger Pflegepension Haus Birkengrund vergifteten sich vier Senioren mit Wachsmalkreide, und im Ruheheim Elisenpark bei Gifhorn gingen drei alte Damen durch den Genuß einer Überdosis Valium gemeinschaftlich in den Tod. Am spektakulärsten nimmt sich der Selbstmord einer Witwe aus, die sich in der Seniorenresidenz Marienthal bei Neuhäusel im Westerwald aus Protest gegen die Abschaffung von „Original und Fälschung“ mit Flugbenzin übergossen und verbrannt hat. Die Notärzte konnten nur ein Ohr der alten Dame retten. Es wurde zu Transplantationszwecken nach Toronto ausgeflogen.

Im Axel-Springer-Verlag gibt man sich gelassen. Anzeigenchef Levetzow erklärt: „Die sollen sich nicht so anstellen. Die Hör zu muß jünger und schlanker werden. Es gibt auch Überlegungen, den Redaktionsigel Mecki mittelfristig plattzumachen. Als Schnarchpille für Gruftis können wir im Wettbewerb auf Dauer nicht mithalten.“ Und er fügt hinzu: „Mir wäre es ja auch lieber, so eine Art gedrucktes Sedativum für Flakhelferwitwen herauszugeben, mit TV-Tips und Kreuzworträtseln, aber im Zeitalter der Globalisierung müssen wir eben alle den Gürtel enger schnallen. Am I right or am I right?“

Ganz anderer Meinung, was das betrifft, ist Horst Figgemeyer (81). Er versteht die Welt nicht mehr. Er hat in Rußland gekämpft, ist Witwer und verzehrt sein „Gnadenbrot“ jetzt in einem ostwestfälischen Seniorenstift. „Seit 1963“, klagt er, „habe ich bei Original und Fälschung meine Kringel gemalt, jede Woche. Für mich ist das jetzt so, wie wenn ein alter Regimentskamerad gefallen wäre.“ Er beginnt zu weinen. „Sie haben mir Pommern genommen. Wenn sie mir jetzt auch noch Original und Fälschung wegnehmen, drehe ich bestimmt durch...“

Horst Figgemeyer hat eine Alten-Initiative gegründet, die für die Wiedereinführung der Rubrik „Original und Fälschung“ kämpft.

Unterstützt wird er dabei von der Diplompsychologin Miriam Waldboden-Zerbst (44), die bei der Hamburger Stiftung für Sozialforschung tätig ist. „Normalerweise berate ich Mädchen, die in Popstars verliebt sind“, sagt sie. „Stellen Sie sich mal vor, Nick von den Backstreet Boys würde bei einem Auffahrunfall sterben. Da würde man doch sofort Sorgentelefone für suizidgefährdete Mädchen einrichten. Aber wer kümmert sich in einer Extremsituation um unsere Alten? Die hängen mit der gleichen Liebe an Original und Fälschung wie die Teenager an Nick. Sollen wir diese Menschen deswegen ausgrenzen?“

Am kommenden Donnerstag mittag soll vor dem Redaktionsgebäude der Hör zu in der Hamburger ABC-Straße 21 eine Senioren- Demonstration gegen die Abschaffung der Rubrik „Original und Fälschung“ stattfinden. Werden wieder Mollis fliegen? Gerhard Henschel