■ Schlagloch
: Wintergäste Von Mathias Greffrath

Have you heard, it's in the stars, / Next July we'll collide with Mars. / Well did you evah, / what a swell party this is. Bing Crosby und Frank

Sinatra in „High Society“

Bedrohlich langsam öffnete sich das schwere, schmiedeeiserne Portal, ferngesteuert wie eh und je. Dahinter dicke Läufer und breite Treppen. Kein Platz war mehr frei im Konzertsaal der Russischen Botschaft unter den Linden in Berlin. Geraffter Brokat, schwerste Kronleuchter, mächtige Säulen, Botschaftsdiener schlossen Flügeltüren. Menschen mit aufgeräumten Gesichtern beschauten die Lüster und die Dreiteiler der anderen Gäste. Herr Conradi vom Siedler Verlag eröffnete den Abend, es sprach ein Grußwort Herr Schmagin von der Russischen Botschaft. Die wolle nun wieder werden, was sie nur kurz sein konnte in diesem Jahrhundert: ein Treffpunkt für alle. Er stellte rauschende Feste in Aussicht, auch wenn es mit dem Kaviar vom Kaspischen Meer nie wieder so werden wird wie damals.

György Konrád, der Präsident der Akademie der Künste, erklomm die Bühne, klappte ganz langsam seine Fernbrille zusammen und ebenso langsam seine Lesebrille auseinander; er redete von langen, schlimmen Wanderungen zwischen den großen Städten und vom guten Ende des 20. Jahrhunderts, nun, da zwischen der Botschaft Rußlands, ja aller Botschaften und der Akademie der Künste wieder die „auf persönlicher Sympathie beruhende Begegnung maßgeblicher Persönlichkeiten“ beider Nationen stattfinden könne. Herzlicher Applaus.

Dann trat Karl Schlögel hinter das Pult. Er sagte „Exzellenz“ zum Leiter der Botschaft und „sehr geehrte Damen und Herren“ zu allen anderen, dann las er aus seinem wirklich sehr schönen Buch „Berlin – Ostbahnhof Europas“, das von den Russen in Berlin handelt, war gerührt und glücklich über den Geschichtsaugenblick. Und wir auch: Wer hätte gedacht, daß sie beide, der Dissident aus Budapest und der antitotalitäre Linke, einmal auf der Bühne einer nicht länger sowjetischen, sondern russischen Botschaft stehen würden? Auch Schlögel sah in die Zukunft, sah schillernde Säle, in denen sich die Prominenz der Nationen vermischen könnte, und auch die Botschaft könne wieder sein, was sie „vor der großen Störung und der geschlossenen Gesellschaft“ war: ein Ort der Begegnung.

Das war sie denn auch an diesem Abend, in der Ecke spielte die Balalaika, auf langen Büfets lagen kaltes Fleisch, Fisch in Aspik und Piroggen, auf kleinen Tischchen standen Wein und Wodka, und alle liefen über dicke Teppiche: der alt gewordene Antipsychiater, der sich auf die Berliner Republik freut, weil es nun wieder eine gute Gesellschaft gebe, mit Salons und richtigen Eliten und weil der Gendarmenmarkt der schönste Platz Europas sei; die ehemalige K- Gruppen-Kommunistin, die in den 70ern Kopiererteile nach Polen schmuggelte und heute beim Wort „links“ immer so bittersüß-nachsichtig lächelt; die Verlegerin, deren Vater schon in St. Petersburg Aufgeklärtes verlegt hatte und die hier ganz still und skeptisch herumstand; der ehemalige Mitarbeiter der Wahrheit (für die Jüngeren: Das war das Westberliner SEW- Blatt; die SEW war die Sozialistische Einheitspartei Westberlins), der nun immer die Herren von Bertelsmann nach Moskau begleitet; der Korrespondent der Wochenzeitung, der sich freut, weil man in Berlin so oft „Kissinger, elegante Anwälte internationaler Provenienz, attraktive Frauen“ treffen kann; der immer noch junge Dichter, der einst wie Lenz durch den roten Apennin wanderte und neuerdings wieder „wir“ sagen kann: „Haben wir Deutschen doch gut gemacht an der Oder neulich“; die Ausstellungsmacherin, die vor dreißig Jahren bei jedem Bild den Klassenstandpunkt kannte und immer noch so blaß und schön ist; und im Spiegel wir selbst: die wir vor drei Jahrzehnten im Ganzen nur das Unwahre fanden, in hundert Jahre alten blauen Bänden die Gegenwart suchten und sogar noch ein wenig traurig waren, als das erste Coca- Cola-Schild in Hanoi leuchtete.

Und alle strahlten. Der Stasi- Akten-Verwalter zeigte mit gut gelaunt gespieltem Erschrecken nach oben: dorthin, wo auf dem großen Mosaikbild, hoch über den kirchengläsern blauen Kreml-Türmen, der rote Stern strahlt und wirkliche weiße Funken sprüht; und neben ihm lachte einer, in dessen Küche einst chilenische Emigranten saßen; sie sahen aus wie Sinatra und Crosby in „High Society“: Würden sie sich nicht gleich auf das Büfet schwingen und singen: „I have heard, among this clan, you are called the forgotten man...?“

Und alle, alle hatten gute Laune. Lachten über falschen Marmor, umrundeten einander und küßten Wangen. Und die Balalaika spielte, und im Rechaud köchelten die Fleischbällchen; das schlimme 20. Jahrhundert ist vorbei, so hatte ein Redner Karl Schlögel zitiert, jetzt seien wir frei.

Ja, wir sind frei geworden, wir Intelligenzler, die in den einst so verschlossenen Sälen promenierten, so wie wir ein paar Tage davor, ein paar Häuser weiter, im Lichthof der Deutschen Bank umherflaniert waren und mit dem Kulturminister debattiert haben. Aus „vergangenheitspolitischen Letztbegründungen“ lasse sich für den „Optionsraum Berliner Republik“ nichts mehr ableiten, hatte der Soziologe Heinz Bude von der „Generation Berlin“ dort gesagt. Aus gewesenen Spesen folgt kein Anspruch mehr, heißt das wohl. Die verbotene Stadt ist nicht mehr verboten, der Kommunismus vorbei, rote Sterne stehen unter Denkmalschutz und rote Fäden zur Vergangenheit, so hatte neulich im Tagesspiegel ein ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen gejubelt, seien alle durchgeschnitten. Frei flanieren können wir nun auch in diesem Protz- und Prunkbau des Stalinismus, der doch irgendwie schön ist, irgendwie so schön, wie sich Proleten die Vorhalle zum Himmel vorgestellt haben müssen. Vorbei das Jahrhundert, in dem sich jede intellektuelle Debatte darum drehte, ob man für oder gegen den Sozialismus sei, vorbei die Jahrzehnte unter den Atombomben. Vorbei das Jahrhundert, in dem die Mächtigen noch Denker brauchten, im Systemwettbewerb um Fortschritt und Gerechtigkeit, vorbei die Zeit, in der man für ein freies Wort ins Lager kam. Vorbei die Zeit, in der so viele sich Gedanken machten um Mehrwert und die Aufhebung der Trennung von Kopf und Hand. Vorbei der Solidaritätszwang.

Nun sind wir wirklich frei: Verlagsangestellte, Skriptboys, Symbolverwalter. Es gibt nur noch eine Wachstumsbranche, sagte mir kürzlich einer von McKinsey: Entertainment. Da braucht man immer ein paar, die wissen, wie es früher war, was es alles so gab, mit ein paar alten Bildern im Kopf und herzerwärmenden Zitaten in der Tasche. Das Leben ist gesichert. So freuen wir uns nun jeden Abend über unseren Ruhestand. Alles paletti, alles Elite. Jeden Abend eine Buchpräsentation, zweimal die Woche Vernissage, jeden Sonntag eine Kolumne, einmal im Jahr eine Denkmalsdebatte.

Und ich darf sagen, ich bin auch dabei.