piwik no script img

Der Gnadenschuß bleibt aus

Wie die DFB-Akteure mit der Lehrstunde durch die niederländischen Systemfußballer beim 1:1 und den Liebesentzug der Deutschen umgehen  ■ Aus Gelsenkirchen Peter Unfried

Dem DFB-Teamchef Erich Ribbeck vorzuwerfen, er rede schön, ist natürlich ein bißchen so, als tadele man Heino für Auswahl und Vortragsart seines Liedgutes. Einerseits gibt es sicher gute Gründe, andererseits: Wozu ist er denn da? Im übrigen ist es schwer genug, das Positive zu finden, manchmal versteckt es sich in einem Konjunktiv. „Wenn da jetzt ein Freistoß gewesen wäre...“, mutmaßte Ribbeck zum Beispiel, dann hätte ihn der dafür vorgesehene Mario Basler ja ausführen können. Da die Niederländer aber zu allem anderen auch noch „absolut fair“ (Ribbeck) spielten, gab es nichts zu tun, was Baslers Neigungen entsprochen hätte. Das Ansinnen, deshalb den Spieler „fertigzumachen“, gab Ribbeck an das Pressecorps zurück, das sich der Aufgabe umgehend angenommen hat (Bild- und kicker-Note: 6).

Während der Boulevard Ribbecks Einstandsniederlage in der Türkei freundlich hinnahm, sehen sich der Public-Relations-Experte und seine Profis nun mit einem neuen Problem konfrontiert: Mit dem 1:1 gegen die Niederlande haben sie ein respektables Ergebnis gegen ein Weltklasseteam vorzuweisen – finden aber kaum einen, dem sie es verkaufen können. Die einen sehen inzwischen weg, die anderen genau hin – aus beidem folgt: Das von Berti Vogts ausgehobene Imageloch hat sich weiter vertieft. Oder wie Kapitän Oliver Bierhoff es nennt: „Die Begeisterung ist geringer geworden.“ Die Öffentlichkeit bestand im Parkstadion zu einem so großen Teil aus Niederländern, daß Lothar Matthäus zu dem Schluß kommen mußte, sein 130. DFB-Einsatz sei „irgendwo ein Auswärtsspiel“ gewesen. Die Deutschen im Stadion beließen es dabei, angesichts der Darbietung der Niederländer bescheiden zu schweigen.

Die haben in einer nahezu perfekten ersten Halbzeit den DFB- Spielern modernen Fußball vorgeführt. Schämen brauchen die sich nicht: Individuell überlegene Profis haben sich mit Hilfe eines überlegenen Spielsystems als Kollektiv in Abwehr und Angriff perfekt durch den Raum bewegt. Das Tempo war so hoch, die Fehlerquote so gering, daß die Deutschen (außer Jeremies) gar nicht dazu kamen, zu ihrem letzten Mittel zu greifen – aggressivem Körperkontakt. „Egal, wo man hinlief“, beschrieb das Bierhoff, „man kam immer einen Schritt zu spät.“

Das kann auch daran liegen, daß das System die individuellen Defizite nicht ausgleicht, sondern vergrößert. Damit allerdings braucht man Ribbeck (61) nicht kommen. „Wir haben in der Innenverteidigung Spieler, die in der Lage sind, eins gegen eins zu spielen“, sagt er, weshalb er den neuen Libero Matthäus vorschickte, den Spielaufbau zu betreiben. Das mache „keinen Sinn“, findet nicht nur der erfolgreiche Kollege Jupp Heynckes. Dann könne man den „gleich weglassen“. Es machte schon Sinn, aber nur für Matthäus (37). Der sah nicht so alt aus.

Das deshalb numerisch unterlegene Mittelfeld und die Innenverteidigung sahen dafür keinen Ball. Dreimal spielten sich die Niederländer so durch, daß Seedorf, Kluivert und Overmars jeweils allein vor Kahn standen. Der Bayern- Keeper ließ aber bloß den eher harmlosen Fernschuß von Reiziger zum 0:1 passieren. Vordergründig sein Fehler, zum Schuß kam der Rechtsverteidiger, weil es keine kollektive Bewegung gab, die das Libero-bedingte personelle Defizit auf der linken Seite hätte ausgleichen können. Warum die Niederländer zur Pause das Laufen reduzierten und die Fehlpaßproduktion aufnahmen, weiß auch deren Trainer Frank Rijkaard nicht (siehe Interview). Ohne Laufen zerfiel ihr Kollektiv. Hinzu kam, daß Marschall sich gegen Stam nicht nur beim 1:1 durchsetzte.

Das Überraschende war, daß sich selbst bei eben noch DFB- freundlichem Publikum deshalb gewisses Bedauern breitmachte. Es ist ja nicht so, daß man nicht um die Nachwuchsprobleme, die fehlenden Weltklassespieler und die fehlende Zeit, Neues einzuüben, et cetera wüßte. Aber wo schon sonst nichts mehr zu erhoffen ist, hatten manche in aller Demut eine Halbzeit lang wenigstens auf eine Art Katharsis gehofft. Die ist ausgeblieben. Es war aber knapp und Lothar Matthäus hinterher so erschöpft, daß er, während sein Kapitän Bierhoff eine neue Bescheidenheit einforderte, kurz einnickte. Dann war er hellwach. Natürlich hatte er gesehen, daß „uns die Holländer mit ganz modernem Fußball 30 Minuten hergespielt haben“. Aber auch, daß das DFB- Team später das Spiel „irgendwo im Griff“ hatte. Und zwar durch individuelle Kampfbereitschaft. So wollen das einige Profis, so will es Ribbeck sehen. „Wir können zufrieden und etwas zuversichtlicher in die Zukunft schauen“, findet der Teamchef. Im Februar geht es nach Florida – gegen die USA und Kolumbien. Ansprüche stellen sollte das verbliebene Publikum allerdings nicht, sondern sich mit Jeremiesschem Existentialismus und dem Einbau der Rückkehrer Möller und Matthäus begnügen. Mit denen will Ribbeck zur EM 2000 marschieren oder wenigstens soweit ihre Füße tragen. „Die Leute“, sagt Kapitän Oliver Bierhoff, „müssen vom hohen Roß herunterkommen.“ Das ist das eine. Das andere: Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß.

Niederlande: van der Sar – Reiziger (68. van Wonderen), Stam, Frank de Boer, van Hintum – Talan (73. Boussatta), Seedorf, Cocu (75. van Bronckhorst), Overmars (81. van Vossen) – van Nistelrooy, Kluivert (46. Mols)

Zuschauer: 45.000; Tore: 0:1 Reiziger (22.), 1:1 Marschall (52.)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen