piwik no script img

Auschwitz, Ortstermin

Das KZ als „Moralkeule“? Der Streit um die Friedenspreisrede hat Martin Walser viel Aufmerksamkeit beschert – bis hin zur literarischen Fährtenlese. Doch Schreiben und Erinnerung haben ihre eigenen Gesetze. Eine Nachfrage bei Peter Weiss  ■ Von Michael Westphal

Die verdeckte Schilderung von Martin Walser in Ruth Klügers Erinnerungsbuch „weiter leben“ hat Hannes Stein jüngst in der Berliner Zeitung kenntlich gemacht. Die Überlebende war von Auschwitz in das Land der Täter zurückgekehrt. In ihrer Regensburger Studienzeit begegnet sie einem Kommilitonen, den sie in ihrem Buch später „Christoph“ nennen wird. Es ist der junge Walser, besserwisserisch, ignorant, der sich hinter diesem Namen verbirgt.

Die von Stein ausgesuchten Textpassagen belegen das Zusammentreffen einer Jüdin mit einem Deutschen, der sie als solche nicht zur Kenntnis nehmen will, ihre eintätowierte Häftlingsnummer nicht bemerkt, sie als befangen zurechtweist, als es in einem Gespräch um Sühne und Schuld, um den Fremdenhaß geht. Als KZ-Überlebende könne sie kein „gemäßigtes Urteil fällen“. Sie versucht noch, ihm, der ein Hitlerjunge war, seine eigene Befangenheit vorzuhalten. Der junge Walser bleibt stur. Er übt sich im „Wegdenken“.

Steins Fund in „weiter leben“ spannt den Bogen zum heutigen Walser, um damit vor allem auf dessen kryptische Auskünfte, wie wir zukünftig Auschwitz und den Holocaust zu erinnern haben, zu reagieren: „Heute hat Christoph alias Martin einen anderen, einen schöneren Traum. Er sehnt sich nach einem Deutschland, das stark, friedlich und ganz normal sein soll. Zuletzt hat Martin Walser dieser Vision in seiner Friedenspreisrede gehuldigt. Dort hat er ein neues Menschenrecht proklamiert: das Recht auf Wegschauen, und er hat mit starken Worten beklagt, daß gestrenge Lehrmeister Auschwitz als moralische Keule instrumentalisieren, um den Deutschen ein schlechtes Gewissen einzubleuen.“

Steins so konzipierter Beitrag mag für die derzeitige Diskussion um die Rede des Schriftstellers in der Frankfurter Paulskirche und die damit hervorgerufenen Reaktionen nützlich sein. Vielleicht ist die Porträtierung in Klügers Prosa tatsächlich geeignet, die ausgelösten Irritationen um Walser selbst zu bestärken oder zu relativieren.

Betrachtet man Klügers Text aber als fiktionales Konstrukt, also als Literatur, verliert diese Frage an Bedeutung. Der geschilderte „Christoph“ ist dann eine literarische Figur, und Klügers ästhetische Mittel schildern in ihm einen Typus, eine Geisteshaltung, wie sie in der Nachkriegszeit angesichts der noch nahen Schrecken der Lager durchaus gängig war. Insofern bliebe „Christoph“ „Christoph“ – und es ist uninteressant, ob sich dahinter der junge Walser verbirgt. Abgesehen davon, daß es den Raum der Literatur begrenzen würde.

Nicht nur von diesem Standpunkt aus wird es müßig sein, in der Debatte um Walsers Äußerungen und ihre Kritik durch Ignatz Bubis nach weiteren Belegen zu suchen, die den Schriftsteller überführen oder bloßstellen könnten. Wer Klügers vielbeachtetes, vor sechs Jahren erschienenes Buch kennt, wird von der Autorin auf einen ganz anderen Namen gelenkt. An zwei entscheidenden Textstellen erweist sie diesem eine Art Reverenz. Es ist Peter Weiss.

Die Autorin nennt ihn nicht nur direkt beim Namen, sie erinnert auch an die zwei herausragendsten literarischen Zeugnisse, die Peter Weiss zu Auschwitz hinterlassen hat. Das weltberühmt gewordene Theaterstück „Die Ermittlung, Oratorium in elf Gesängen“ wagt den Versuch, den Frankfurter Auschwitz-Prozeß und die Aussagen dort in eine literarische Form – und damit das Lager auf die Bühne zu bringen. Der zweite Text ist weit weniger bekannt und beschreibt Weiss' direkte Konfrontation mit dem mittlerweile musealen Vernichtungslager, für das er – als sogenannter Halbjude – nach den perfiden Rassengesetzen der Nazis „bestimmt war und der ich entkam“.

Weiss war damals gebeten worden, einen Text über einen wichtigen Ort seines Lebens zu schreiben, zum Beispiel über seine Kinderstadt Bremen. Diesem Wunsch konnte Peter Weiss nur im Schreiben über Auschwitz entsprechen, sicher, seinen Namen auf den Deportationslisten der Schergen zu finden, durch eine rechtzeitige Emigration nach Prag, nach London, ins schwedische Stockholm glücklich entkommen. In „Fluchtpunkt“, seinem zweiten autobiographischen Roman, hat Weiss die ihn lebenslang quälende Frage nach der eigenen Schuld thematisiert, die er im eigenen Überleben sah. „Meine Ortschaft“ ist die in Prosa gebannte Ortsbesichtigung, der Ortstermin Auschwitz! Wir haben nicht zu bewerten, ob Weiss' Überlebenssyndrom ein übersteigertes oder ob seine obsessive Hinwendung zum Schrecken letztlich Auschwitz gezollt war. Der redliche Peter Weiss hat selbst Aufklärung darüber geschafft, wie zu erinnern ist und wo die Grenzen der Darstellbarkeit von Auschwitz liegen: „Ein Lebender ist gekommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah. Der Lebende, der hierherkommt, aus einer andern Welt, besitzt nichts als seine Kenntnisse von Ziffern, von niedergeschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen... Nur wenn es neben ihm geschieht, daß man sie zusammentreibt, niederschlägt, in Fuhren lädt, weiß er, wie dies ist.“

Es gelingt aber Peter Weiss trotzdem, durch ein seismographisches Beobachten und durch seinen diagnostischen Blick die inventarisierten Gegenstände, die verfallenen Baracken und Loren, die menschenleere Rampe zu registrieren und sie gleichermaßen zu verlebendigen. Sie werden als das sichtbar gemacht, was sie einst waren: Tötungsinstrumente. Und deshalb schreibt Ruth Klüger über diesen Peter Weiss, er sei „der beste Besucher, den man sich wünschen kann, denn er sah kein fertiges, starres Mahnmal“.

Die Überlebende von Auschwitz macht das an einem kleinen Detail sichtbar, das Peter Weiss bei seinem Rundgang aufgefallen war. Sie beschreibt den Moment ihrer Ankunft im Vernichtungslager. Als Kind: „Nach vorne gerissen, von hinten gestoßen, fiel ich aus dem Waggon, denn man mußte springen, zum Aussteigen sind solche Wagen zu hoch – merkwürdig, Peter Weiss hat das gemerkt, guter Beobachter, der er war.“

Ruth Klüger hat im unterschiedlich gearteten Auftreten zweier Schriftsteller der deutschen Nachkriegsgeneration zuallererst eine ästhetische Differenz ausgemacht. Diese sollte auch das eigentliche Kriterium bei der Bewertung von Schriftstellerworten in Friedenspreisreden sein. Würde man Weiss und Walser auf die ästhetische Probe stellen, so fiele der Befund eindeutig und unmißverständlich aus. Weiss, der dem literarischen Betrieb ohnehin ablehnend gegenüberstand und von Krönungen und Ehrungen weitestgehend verschont blieb, hinterläßt ein Werk, das weit mehr geeignet ist, unser Bewußtsein für das Wachhalten von Verfolgung und Ermordung europäischer Juden zu schärfen.

Die integre Persönlichkeit eines Peter Weiss, der ins Exil ging, kann dabei einem Walser nicht zur Last gelegt werden. In der Heimatlosigkeit fand Peter Weiss schließlich erst sein brillantes ästhetisches Vermögen. Karl Heinz Bohrer hat einst darin die „Tortur“ als „poetische Urerfahrung“ hervorgehoben und nachgewiesen, daß selbst in dem vielgespielten Theaterstück „Marat/Sade“, das in der klinischen Umgebung einer Irrenanstalt, einem Badesaal, spielt, die „Orte des nationalsozialistischen Massenmordes“ unterlegt sind.

Dieses Surplus ist zu erinnern. Nicht zuletzt in der andauernden Zerreißprobe um ein zentrales Mahnmal in Berlin wird man also Weiss' Prosa gezielt befragen dürfen. Sie wird nicht nur standhalten, es wird sich auch herausstellen, daß Peter Weiss nicht einmal den Terminus „Auschwitz als ... Moralkeule“ kannte, geschweige denn davon sprach!

Mit seiner ernsten, zuweilen lakonischen Prosa hat dieser wie wohl kein zweiter Schriftsteller der Nachkriegszeit um die Darstellbarkeit des Holocaust gerungen. Seine Imaginationsfähigkeit hat er dabei bis zum äußersten getrieben. Und so führt noch sein 1.000-Seiten-Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ „in Richtung Oswiecim, dem Bahnknotenpunkt“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen