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Endstation Hamburg Hauptbahnhof

Jochen Kalina ist Polizist. Zuständig für entlaufene Jugendliche. Dort, wo die meisten von ihnen hingehen, wenn sie auf ihr Zuhause keinen Bock mehr haben. Sozialarbeiter kümmern sich um diese Halbwüchsigen erst, wenn sie wirklich ein Leben in Normalität anfangen wollen. Für die Zeit davor sind es ausgerechnet Polizisten, die zu ihren Schutzmännern werden. Was sie den Entlaufenen bieten können, ist nicht das Wärme- und Hilfsprogramm der Jugendfürsorge. Denn sie können notfalls auch hart durchgreifenund sie gegen ihren Willen zu den Eltern zurückbringen. Jochen Kalina und seine KollegInnen haben eine Autorität, die von den Kindern respektiert wird – weil sie Halt gibt. Mit den Bahnhofspolizisten auf mittnächtliche Streife in Hamburg ging  ■ Per Hinrichs

Saschaist der Größte. Mein Gott, fühlt der sich stark. Steht in seiner Trainingshose auf dem Bahnhofsvorplatz, reißt die Arme in die Luft und könnte es mit jedem aufnehmen. Mit den Polizisten in Zivil auf dem Parkplatz allemal: „Verpißt Euch, Ihr Scheißbullen!“ schreit er. „Ich ficke Euch alle in den Arsch! Was wollt Ihr mit Jasmin?“

Polizeihauptmeister Jochen Kalina begleitet das blonde Mädchen wortlos zu einem weißen Bus. Bloß nicht reagieren, sonst flippt der schmächtige Junge vollends aus. Saschas Stimme überschlägt sich auch so schon. „Das könnt ihr nicht machen, ihr Scheißtypen!“

Kalina kann. „Der ist voll mit Stoff“, sagt der Polizist. „Völlig durchgeknallt.“ Sein Kollege fährt Jasmin nach Hause.

„In Gewahrsam nehmen“ heißt dieser Vorgang im Polizistendeutsch. Die Beamten aus dem „Jugendschutz-Trupp Mitte“ der Hamburger Polizei wollen sichergehen, daß Jasmin auch wirklich bei ihren Eltern ankommt. In letzter Zeit hing sie oft am Hauptbahnhof rum, hielt Händchen mit Sascha und ließ sich von ihm mit Heroin versorgen.

Einer wie Sascha wirkt auf Mädchen, die es zu Hause nicht mehr aushalten. Er macht auf Macker und Beschützer. Und er gibt ihnen das Gefühl, daß einer auf sie aufpaßt und sie es wert sind, behütet zu werden. Von ihren Vätern haben die Mädchen nichts zu erwarten. Die trinken, pöbeln, prügeln. Und mißbrauchen ihre Töchter; manchmal, man hört diese Geschichten oft, werden sie wie Trophäen an Bekannte weitergereicht.

Jochen Kalina stellt sich mit seinem Chef Karl-Heinz Wiesenmüller vor den Hintereingang des Bahnhofs. Gegenüber wirbt das Deutsche Schauspielhaus mit bunten Plakaten vor seiner strahlend weißen Fassade. Auf der anderen Seite halten Männer nach Strichern Ausschau, laufen Pendler zur S-Bahn, sammelt sich eine rucksackbepackte Jugendgruppe in der Halle, laufen Reisende treppauf, treppab durch das Passagenlabyrinth.

Hier, zwischen den sauberen Geschäften im Bahnhofsgebäude und der verwahrlosten Szene draußen, haben die Jugendschützer ihren Arbeitsplatz. „Am Bahnhof bin ich keine Sekunde länger als nötig“, sagt Kalina, der Polizist.

Wenn er sich umsieht, fällt sein Blick auf eine Szenerie, vor der sich die meisten Bahnhofspassanten fürchten. Er sieht auf bis zur Bewußlosigkeit betrunkene Obdachlose, die sich an Laternenpfähle kauern; auf Freier, die auf willige Jungs warten; auf Junkies, die einen Deal vermitteln, Einwegspritzen anbieten, Medikamente gegen Entzugserscheinungen verkaufen oder einfach nur mit ihresgleichen abhängen wollen.

Verkehrsknotenpunkte wie der Hamburger Hauptbahnhof ziehen vor allem Gestrandete an. Einige Reisende stolpern über das eine oder andere Wrack und wundern sich über die Kinder, die mit der Bierdose in der Hand scheinbar ziellos durch die Bahnhofshalle stromern. Die Polizisten dieses Revierswundern sich über nichts mehr.

Vor dreißig Jahren hat Wiesenmüller noch überprüft, ob Vierzehnjährige in der Kneipe rauchen. Heute sollen er und seine Leute nur noch versuchen, Jugendlichen einen Weg zurück in die Welt zu bahnen, aus der sie abgehauen sind. „Die sind wie Ratten,“ sagt er, „die haben gelernt, in diesem Sumpf zu überleben.“

Die beiden Polizisten gehen in die Wandelhalle, eine Einkaufspassage am Kopf der Gleise, in der Menschen ohne Geld vom Sicherheitsdienst des Bahnhofs mißtrauisch beäugt werden. Die Mädchen stehen auf einer Galerie über der Flaniermeile herum und lassen sich von Typen vor McDonald's anquatschen.

Cool sind sie, die Jungs mit dem Don- Juan-Gehabe, den Goldkettchen und den weißen Jeans. Charmante junge Männer, die sich gekonnt durchs schwarze Haar fahren und den Mädchen gönnerhaft das Einmaleins des Bahnhofs erklären. „Die Typen ziehen sie rein. Die tun nur so, als ob sie an den Mädchen interessiert wären“, sagt Kalina.

Er kann diese Kerle nicht ausstehen. Es gefällt ihn nicht, daß sie gut aussehen und den Mädels sagen, was sie hören wollen. Und daß sie dabei immer ein Hauch von Abenteuer und Ausreißerromantik umgibt. Denn er und seine 25 Kolleginnen und Kollegen sollen den Mädchen helfen, aus dieser Szene herauszukommen.

Zu dritt oder viert durchkämmen sie Hauptbahnhofsgebäude, Kinderstrich und Bahnhofskneipen – auf der Suche nach verlorenen Jugendlichen. Natürlich gibt es dafür Sozialarbeiter und die Tagesstätte „Kinder in der Szene (KIDS)“ direkt neben der Eingangshalle. Kalina sagt: „Wir sind keine Sozialarbeiter.“ Er betont diesen Satz so hart, als ob er fürchte, doch mehr mit dem Herzen dabei zu sein.

So klingt die Beschreibung, was ihn und seine Kollegen von den Sozialarbeitern unterscheidet, so richtig wie auswendig gelernt: „Wir haben neben der Gesprächsbereitschaft auch das repressive Mittel zur Verfügung, wenn es nötig ist.“ Das soll auch heißen: Die Polizisten brauchen die Jugendlichen im Zweifelsfall nicht überreden, um sie vom Hauptbahnhof wegzubringen.

Daß sie dies nur ausnahmsweise auch machen, hat mit der Vielzahl der Fälle zu tun, um die sie sich kümmern müssen. So kämpfen die jugendschützenden Polizisten mit Polizeiattitüde und Sozialarbeiteridealismus gegen das Elend an.

„Wir versuchen, präventiv zu wirken“, sagt Wiesenmüller. Sehen die Zivilpolizisten eines der Mädchen mehrmals, zücken sie die Polizeimarke. Ausweiskontrolle. Kalina schreibt sich die Namen der Mädchen in sein kleines grünes Büchlein. Dort sind die Begegnungen mit den Straßenkindern über Monate hinweg aufgelistet.

„Maike: 16. April. Am Bahnhof getroffen, 1.30 Uhr.“ – „5. Mai. Am Straßenstrich aufgelesen, 16.45 Uhr.“ Ist es nach Mitternacht – wenn Jugendliche bis sechzehn Jahren zu Hause sein müßten –, rufen sie die Eltern an. Ein wirkungsloses Unterfangen allerdings, wenn denen ihre Kinder egal sind.

Doch für diese Schwierigkeiten ist nicht die Polizei zuständig. Die Beamten schreiben, wie im Falle Jasmins, eine Meldung an das Jugendamt und telefonieren mit dem Kinder- und Jugendnotdienst der Sozialbehörde, bei dem die Kinder eine Nacht schlafen können – wenn sie wollen. Am nächsten Morgen trifft man sich meist wieder, dann sind die Kollegen der anderen Schicht dran, sich um sie zu kümmern.

Auch Nini ist eine alte Bekannte von Kalina und Wiesenmüller. Die Fünfzehnjährige ist ohne festen Wohnsitz. Mal übernachtet sie bei Freunden, die sie vom Hauptbahnhof kennt; gelegentlich schläft sie in einem der Betten des Kinder- und Jugendnotdienstes.

Bei ihrer Mutter ist sie eigentlich nur zu Gast. Heute nacht weiß sie nicht, wohin sie soll. Jetzt hängt sie auf der Galerie des Hauptbahnhofes herum. Sie schnackt mit einer Freundin. Kalina geht auf sie zu. „Willst Du reden?“ fragt Kalina. Nini blickt nach unten. Dann nickt sie zaghaft. „Ja, gut, ja.“

Oben, im Büro der Bahnpolizei, in der das Neonlicht die hellgrünen Resopalschreibtische noch künstlicher aussehen läßt, bleibt von der coolen Fassade des Teenagers nicht viel übrig.

Nini erzählt von ihrem bevorstehenden Prozeß. Leise und flüssig spricht sie, wendet ihren Kopf nicht hoch, sieht nur auf den Schreibtisch. Nach fast zehn Jahren hat sie sich entschieden, ihren Stiefvater anzuzeigen. Wenn der besoffen war, hat er sie vergewaltigt. Dabei fragte er immer: „Ist es schön so, ist es schön so?“ Das erzählt sie so beiläufig, als berichte sie von einem Fahrradunfall.

Sie flüchtete schließlich Abend für Abend in den Mikrokosmos Hauptbahnhof, wo sie Freunde fand, denen es genauso beschissen ergangen war wie ihr. Irgendjemand hat ihr dann Heroin vorgeraucht. Das fand sie toll. Alkohol? „Nee.“ Fusel trinkt fast niemand von den Bahnhofskindern. Wiediese diese Droge wirkt, wissen sie von zu Hause.

Nini brauchte anderthalb Jahre, um vom Heroin loszukommen. Ab und zu unterstützt sie ein Sozialarbeiter vom Jugendamt darin, überhaupt Halt im Leben zu finden. Er nennt sie seine „Prinzessin“, und das findet Nini bescheuert, weil doch nur Kinder so genannt werden wollen. Kalina und Wiesenmüller würden sie nie als „Prinzessin“ bezeichnen. Auch das schätzt Nini an den beiden Polizisten.

Jetzt, im Dienstzimmer ihrer Schutzmänner, sagt sie: „Ich bin nur froh, daß ich nicht auf dem Strich gelandet bin, um mir das Geld für die Drogen zu verdienen.“ Sonst „wär's endgültig bergab gegangen“.

Streifengang am Straßenstrich, hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Wer von den zwanzig bis dreißig Jugendlichen, denen der Hauptbahnhof fast ein Zuhause ist, erst einmal auf dem Babystrich am nahen Steindamm landet und anschaffen geht, wird für Hilfe nahezu unerreichbar.

Wie Jenny. Die dürre Siebzehnjährige drückt sich im Eingang zur Wandelhalle rum, ihr jugendliches Gesicht verborgen unter viel Make-up. Heroin läßt die Mädchen abmagern, sie hören auf zu essen, überhaupt kümmern sie sich nicht mehr um sich.

Ein Frauenarzt hat sie neulich mitgenommen, nachdem sie ihm erzählt hatte, schwanger zu sein. „Da hat er mich nachts in die Praxis gefahren und ein Ultraschallbild gemacht“, sagt sie. Ohne Sex. Kalina glaubt ihr nicht. „Der kommt doch sicher wieder, oder?“ – „Nee, der war richtig nett.“

Ein Frauenarzt auf dem Kinderstrich? Das wäre nicht ungewöhnlich. Akademiker, Politiker, Maurer – Freier kommen aus allen Schichten und Generationen. Wiesenmüller weiß sich die Sache mit dem Gynäkologen so zu erklären: „Es gibt ihnen wohl ein sexuelles Machtgefühl, sich mit diesen drogensüchtigen Mädchen einzulassen, die das Geld für den nächsten Trip anschaffen gehen.“

An der schmuddeligen Straße im Bahnhofsviertel St. Georg reiht sich Sexshop an Pornokino, Spielothek an Spelunke. Es blinkt und glitzert an allen Eingängen. Leuchtreklamen und Lichterketten wirken, als sei die Wohnstraße zu grell geschminkt. Mit glasigen Augen starren die minderjährigen Mädchen auf den Bürgersteig vor dem Bahnhof.

„Die geben alles Geld für Heroin aus und vernachlässigen sich total“, sagt Wiesenmüller. Um sie herum kurven Autos aus benachbarten Landkreisen. Manchmal hupt ein Fahrer und wartet, bis ihm eines der Mädchen ungelenk entgegenstöckelt. Meistens sind sie so vollgepumpt, daß sie sich kaum aufrecht halten können. Sie plumpsen ins Auto, fahren mit ihm in eine dunkle Ecke und befriedigen ihn mit der Hand oder dem Mund.

Maike steht heute auch da. Oder hat sie sich nur hingestellt, damit Kalina sie bemerkt? „Mensch Maike, was machst Du hier? Los, komm', wir gehen weg!“ sagt er halb bittend, halb befehlend. Es ist halb zwei Uhr nachts. Kalina, der Bulle, läuft mit Maike und seinem Kollegen ins Büro. Nach Hause will Maike auf gar keinen Fall. Also rufen die beiden Beamten den Kinder- und Jugendnotdienst an.

Maike setzt sich auf einen Stuhl, den Kopf nach unten geneigt, so daß die langen Haare wie eine Gardine vor ihr Gesicht fallen. „Ich habe keinen Bock mehr, ich will weg aus Hamburg“, sagt sie.

Eine Stunde sitzt sie im Büro der Bahnpolizei und erzählt, daß sie ihr Leben so schrecklich anödet, daß sie sich schon vor die Bahn werfen wollte. Aber selbst dafür muß man ein bißchen Mut aufbringen. Und auch den hat Maike nicht.

Dafür müßte sie auch über ihre Vergangenheit nachdenken, die sie mit Heroin wegrauchen will. Sie schafft es auch nicht, so wie Nini ihre Geschichte scheinbar belanglos herunterzurattern.

Also wird es wieder einer dieser Abende, an dem zwei mißmutige Betreuer kommen, die keine Lust auf noch eine desinteressierte Halbwüchsige haben, das sich abends in die Falle haut und am nächsten Morgen einfach verschwindet. Aber wenigstens hat sie heute nacht ein Dach über den Kopf. Die letzten sechs Nächte hat sie am Bahnhof gepennt.

Während sie redet, hebt Maike nicht ein Mal ihren Kopf. Als sie aufsteht, sieht sie die Beamten kurz an. Ihre Augen wirken leblos. Sie bleibt einen Moment stehen, als ob sie noch etwas sagen möchte. Dann geht sie mit den Erziehern zum Auto.

Kaum einer der Polizisten findet Zugang zu Maike. Ihrer Sozialarbeiterin traut sie nicht. Nur zu einem scheint sie Vertrauen gefaßt zu haben: Jochen Kalina.

Maike und Jochen passen gut zueinander. Die blonde Kleine und der große, ältere Mann. Das klingt wie ein Film à la „Der Bulle und das Mädchen“. Ein toller Bruder wäre Jochen für sie. Vielleicht ein Vater. Kalina haßt solche Vergleiche. „Ich habe eine Familie mit einer Frau und zwei Töchtern und bin kein Ersatzpapa für Straßenkids.“

So ganz gelingt es ihm aber nicht, einen Graben zu ziehen zwischen seinem Privatleben und dem Job. Denn neulich hat er Maike Fotos von seiner Familie gezeigt. Da war sie ganz zutraulich und hat ihn nach den etwa gleichaltrigen Mädchen ausgefragt. „Die ältere kommt mehr nach mir, die jüngere ist ein bißchen flippiger, wie die Mutter“, erzählte ihr Kalina.

Die Nähe zu den Polizisten verwirrt die Jugendlichen. Maike hat Jochen neulich einen Brief geschrieben. Sie wollte mal allein mit ihm reden. Den Brief haben dann andere Polizisten gelesen, weil Maike ihn falsch adressiert hatte. Manchmal geht sie in die Bahnhofswache und läßt ihn über Funk anfordern, wie ein Mädchen im Kaufhaus nach seinen verlorengegangenen Eltern verlangt.

Jochen Kalina ist zweimal gekommen, aber jetzt ist Schluß. Er sagt streng: „Wir dürfen uns nicht zum Affen machen für die Kids. Entweder sie nehmen die Hilfsangebote an oder nicht.“ Er ist zu Maike hingegangen und hat ihr das gesagt, was er ihr schon tausendmal vorher erzählt hat: „Ich bin kein Sozialarbeiter, ich bin Polizist. Wenn Du Hilfe brauchst, mußt du dich an deine Betreuerin wenden.“ Maike setzt dann immer einen bettelnden Blick auf, aber Kalina bleibt immer eisern. „Es gibt Grenzen.“

Nach dem zweiten oder dritten Mal in der Wache nehmen die Polizisten die Kids nicht mehr mit, auch wenn sie sie mitten in der Nacht treffen. Sie geben sie auf. Dann fallen die Kinder in ein Loch: Die Polizei kann nichts mehr machen, und die Sozialbehörde wird erst dann aktiv, wenn die Jugendlichen wirklich raus aus dem Bahnhof wollen.

In so einem Fall gäbe es ein üppiges Hilfsangebot. Alle, die Polizei, die Jugendbehörden, sind auf dem letzten Stand, was die Liste der Möglichkeiten anbelangt, die die Bahnhofskinder haben. Jugendwohnungen, betreutes Wohnen, persönliche Betreuung mit Sozialarbeitern, Gespräche mit den Eltern. Nur gezwungen wird keiner. Sie müssen den Willen zum Ausstieg aus der Szene und für einen Neuanfang selbst aufbringen.

Maike hat auch gar keine Lust auf Normalität. Am Hauptbahnhof sind die anderen, die mit ihr Heroin rauchen oder auf der Empore über der Wandelhalle abhängen. Sie glaubt, im Zweifelsfall besser denen trauen zu können. Betreuer sind weit weg – und fordern so lästige Sachen, wie die, jetzt mal über das eigene Leben nachzudenken. Dann müßte sie überlegen, ob sie nicht doch in eine Jugendwohnung ziehen will. Das hieße, Verantwortung zu übernehmen und über den Tag hinaus zu denken.

Auf der Suche nach dem, was Leben ist, wandert sie im Bahnhofsviertel umher und trifft jeden Tag und jede Nacht immer irgendwelche „lieben Bullen“, die einem den Weltschmerz auszureden versuhen, wenn die Selbstmordphantasien wieder das Bewußtsein vernebeln. Und die ihr das Gefühl geben, gemocht zu werden.

Schon in der Nacht darauf wird Jochen Kalina Maike wieder treffen. Aber dann wird er sie kaum noch wieder erkennen. Ihre Haare wild zerzaust, ihr Blick verschwommen, die Augen verweint. Maike kann dann kaum noch gehen. Sie hat vier Heroinpäckchen konsumiert und bibbert nun am ganzen Körper. Aber Kalina wird sie gehen lassen, denn Maikes Freund ist dabei. Sie wird in seiner Wohnung schlafen können.

Wie fühlt sich der Polizist, der doch nicht wirklich helfen kann? „Wir können nur Angebote machen, mehr nicht“, sagt Kalina knapp. „Und das mißverstehen die Kids gerne.“ Jeden Tag fährt er mit dem Rad dreißig Kilometer von seinem kleinen Dorf am Stadtrand zur Arbeit und zurück. „Das tut gut, der Abstand vom Bahnhof zur Familie.“

Die Jugendschützer wissen, daß sie eigentlich nur Polizisten sind, die weder eine sozialpädagogische Ausbildung haben noch den lieben Onkel mimen können. Dennoch: „Wir sind die einzigen am Hauptbahnhof, mit denen die Kids rund um die Uhr Kontakt haben und mit denen sie auch mal ein vernünftiges Wort wechseln können“, sagt Kalinas Kollege Wiesenmüller.

Dabei fällt auch mal die eine oder andere polizeiliche Information für die Beamten ab. In der Freierszene am Hauptbahnhof kennen sie sich aus wie sonst nur die Stricher selbst: Da gibt es etwa den Freier „Hexe“ oder „Honig-Peter“, der so heißt, weil er tagsüber auf Märkten Honig verkauft.

Die Männer stehen abends und nachts am Bahnhofseingang und mustern die Passanten. „Denen können wir nichts nachweisen. Da sind wir machtlos“, sagt Wiesenmüller. Neulich hat ihm einer sogar ins Gesicht gesagt: „Wenn Sie längst pensioniert sind, stehe ich immer noch hier.“ Wiesenmüller geht nächstes Jahr in Rente.

Der bevorzugte Platz der Freier ist das nahegelegene Kaufhaus. In der Spielwarenabteilung drücken sich Jugendlichen rum, die keinen Bock auf Schule haben, weil sie ihre Jacken dort einer Jugendgang abliefern müssen oder eine miese Note nach der anderen nach Hause bringen.

Wenn ein solcher Junge an der Nintendospielkonsole Raumschiffe abballert, fragt ihn einer der freundlichen Herren, ob er nicht zu ihm nach Hause möchte. „Da habe ich noch viel mehr Spiele.“

Die Polizisten kennen die Tricks des Gewerbes. Sie gehören zur Alltagserfahrung von Bahnhofspolizisten, die für ihre Schützlinge keine Väter sind und auch keine sein wollen. Kalina und Wiesenmüller können nichts verhindern, sie können nur warnen.

Gelegentlich kommt es sogar zu einer Stimmungswende, zu einem sich scheinbar anbahnenden Happyend. Beispielsweise, als zwei Tage nach dieser Nacht Wiesenmüller und Kalina die gutgelaunte Nini und ihren sozialpädagogischen Betreuer wiedertreffen.

Sie hat eine Neuigkeit, die sie Jochen Kalina gleich mitteilen will: Eigentlich laufe es ja schon ein bißchen länger, aber jetzt sei sie offiziell mit Christian zusammen.

Sie haben sich schon vor längerer Zeit am Bahnhof kennengelernt. Kalina hört zu. Allerdings, sagt Nini, gebe es ein Problem. Ihr Christian sitzt in der Jugendstrafanstalt Hahnhöfersand bei Hamburg. Untersuchungshaft.

In der Szene nennen ihn alle „Psycho“, weil er so schnell ausflippt. Mehrere Körperverletzungen und Raubüberfälle hat er schon auf dem Konto. In den örtlichen Tageszeitungen wurde ein beachtlicher Auszug daraus veröffentlicht.

Vor einigen Wochen war er dabei, als sein Freund Patrick einen Ladenbesitzer brutal niederstach und tötete. Sie nahmen die 220 Mark aus der Kasse, gingen ins Kino und sahen sich „Romeo und Julia“ an. Kurz darauf wurden sie geschnappt.

Hat Nini denn keine Angst vor „Psycho“? Da blickt auf, sieht ihr Gegenüber aus großen Augen fest an und sagt mit dem Stolz eines Mädchens, das glaubt, einen von der schiefen Bahn geholt zu haben: „Ich kenne auch seine weiche Seite. Im Gefängnis hat er sogar geweint. Und das hat noch keiner gesehen.“

Saschaist der Größte. Mein Gott, fühlt der sich stark. Steht in seiner Trainingshose auf dem Bahnhofsvorplatz, reißt die Arme in die Luft und könnte es mit jedem aufnehmen. Mit den Polizisten in Zivil auf dem Parkplatz allemal: „Verpißt euch, ihr Scheißbullen!“ schreit er. „Ich ficke euch alle in den Arsch! Was wollt ihr mit Jasmin?“

Polizeihauptmeister Jochen Kalina begleitet das blonde Mädchen wortlos zu einem weißen Bus. Bloß nicht reagieren, sonst flippt der schmächtige Junge vollends aus. Saschas Stimme überschlägt sich auch so schon. „Das könnt ihr nicht machen, ihr Scheißtypen!“

Kalina kann. „Der ist voll mit Stoff“, sagt der Polizist. „Völlig durchgeknallt.“ Sein Kollege fährt Jasmin nach Hause.

„In Gewahrsam nehmen“ heißt dieser Vorgang im Polizistendeutsch. Die Beamten aus dem „Jugendschutz-Trupp Mitte“ der Hamburger Polizei wollen sichergehen, daß Jasmin auch wirklich bei ihren Eltern ankommt. In letzter Zeit hing sie oft am Hauptbahnhof rum, hielt Händchen mit Sascha und ließ sich von ihm mit Heroin versorgen.

Einer wie Sascha wirkt auf Mädchen, die es zu Hause nicht mehr aushalten. Er macht auf Macker und Beschützer. Und er gibt ihnen das Gefühl, daß einer auf sie aufpaßt und sie es wert sind, behütet zu werden. Von ihren Vätern haben die Mädchen nichts zu erwarten. Die trinken, pöbeln, prügeln. Und mißbrauchen ihre Töchter; manchmal, man hört diese Geschichten oft, werden sie wie Trophäen an Bekannte weitergereicht.

Jochen Kalina stellt sich mit seinem Chef Karl-Heinz Wiesenmüller vor den Hintereingang des Bahnhofs. Gegenüber wirbt das Deutsche Schauspielhaus mit bunten Plakaten vor seiner strahlend weißen Fassade. Auf der anderen Seite halten Männer nach Strichern Ausschau, laufen Pendler zur S-Bahn, sammelt sich eine rucksackbepackte Jugendgruppe in der Halle, laufen Reisende treppauf, treppab durch das Passagenlabyrinth.

Hier, zwischen den sauberen Geschäften im Bahnhofsgebäude und der verwahrlosten Szene draußen, haben die Jugendschützer ihren Arbeitsplatz. „Am Bahnhof bin ich keine Sekunde länger als nötig“, sagt Kalina, der Polizist.

Wenn er sich umsieht, fällt sein Blick auf eine Szenerie, vor der sich die meisten Bahnhofspassanten fürchten. Er sieht auf bis zur Bewußtlosigkeit betrunkene Obdachlose, die sich an Laternenpfähle kauern; auf Freier, die auf willige Jungs warten; auf Junkies, die einen Deal vermitteln, Einwegspritzen anbieten, Medikamente gegen Entzugserscheinungen verkaufen oder einfach nur mit ihresgleichen abhängen wollen.

Verkehrsknotenpunkte wie der Hamburger Hauptbahnhof ziehen vor allem Gestrandete an. Einige Reisende stolpern über das eine oder andere Wrack und wundern sich über die Kinder, die mit der Bierdose in der Hand scheinbar ziellos durch die Bahnhofshalle stromern. Die Polizisten dieses Reviers wundern sich über nichts mehr.

Vor dreißig Jahren hat Wiesenmüller noch überprüft, ob Vierzehnjährige in der Kneipe rauchen. Heute sollen er und seine Leute nur noch versuchen, Jugendlichen einen Weg zurück in die Welt zu bahnen, aus der sie abgehauen sind. „Die sind wie Ratten“, sagt er, „die haben gelernt, in diesem Sumpf zu überleben.“

Die beiden Polizisten gehen in die Wandelhalle, eine Einkaufspassage am Kopf der Gleise, in der Menschen ohne Geld vom Sicherheitsdienst des Bahnhofs mißtrauisch beäugt werden. Die Mädchen stehen auf einer Galerie über der Flaniermeile herum und lassen sich von Typen vor McDonald's anquatschen.

Cool sind sie, die Jungs mit dem Don- Juan-Gehabe, den Goldkettchen und den weißen Jeans. Charmante junge Männer, die sich gekonnt durchs schwarze Haar fahren und den Mädchen gönnerhaft das Einmaleins des Bahnhofs erklären. „Die Typen ziehen sie rein. Die tun nur so, als ob sie an den Mädchen interessiert wären“, sagt Kalina.

Er kann diese Kerle nicht ausstehen. Es gefällt ihm nicht, daß sie gut aussehen und den Mädels sagen, was sie hören wollen. Und daß sie dabei immer ein Hauch von Abenteuer und Ausreißerromantik umgibt. Denn er und seine 25 Kolleginnen und Kollegen sollen den Mädchen helfen, aus dieser Szene herauszukommen.

Zu dritt oder viert durchkämmen sie Hauptbahnhofsgebäude, Kinderstrich und Bahnhofskneipen – auf der Suche nach verlorenen Jugendlichen. Natürlich gibt es dafür Sozialarbeiter und die Tagesstätte „Kinder in der Szene“ (KIDS) direkt neben der Eingangshalle. Kalina sagt: „Wir sind keine Sozialarbeiter.“ Er betont diesen Satz so hart, als ob er fürchte, doch mehr mit dem Herzen dabeizusein.

So klingt die Beschreibung, was ihn und seine Kollegen von den Sozialarbeitern unterscheidet, so richtig wie auswendig gelernt: „Wir haben neben der Gesprächsbereitschaft auch das repressive Mittel zur Verfügung, wenn es nötig ist.“ Das soll auch heißen: Die Polizisten brauchen die Jugendlichen im Zweifelsfall nicht überreden, um sie vom Hauptbahnhof wegzubringen.

Daß sie dies nur ausnahmsweise auch machen, hat mit der Vielzahl der Fälle zu tun, um die sie sich kümmern müssen. So kämpfen die jugendschützenden Polizisten mit Polizeiattitüde und Sozialarbeiteridealismus gegen das Elend an.

„Wir versuchen, präventiv zu wirken“, sagt Wiesenmüller. Sehen die Zivilpolizisten eines der Mädchen mehrmals, zücken sie die Polizeimarke. Ausweiskontrolle. Kalina schreibt sich die Namen der Mädchen in sein kleines grünes Büchlein. Dort sind die Begegnungen mit den Straßenkindern über Monate hinweg aufgelistet.

„Maike: 16. April. Am Bahnhof getroffen, 1.30 Uhr.“ – „5. Mai. Am Straßenstrich aufgelesen, 16.45 Uhr.“ Ist es nach Mitternacht – wenn Jugendliche bis sechzehn Jahren zu Hause sein müßten –, rufen sie die Eltern an. Ein wirkungsloses Unterfangen allerdings, wenn denen ihre Kinder egal sind.

Doch für diese Schwierigkeiten ist nicht die Polizei zuständig. Die Beamten schreiben, wie im Falle Jasmins, eine Meldung an das Jugendamt und telefonieren mit dem Kinder- und Jugendnotdienst der Sozialbehörde, bei dem die Kinder eine Nacht schlafen können – wenn sie wollen. Am nächsten Morgen trifft man sich meist wieder, dann sind die Kollegen der anderen Schicht dran, sich um sie zu kümmern.

Auch Nini ist eine alte Bekannte von Kalina und Wiesenmüller. Die Fünfzehnjährige ist ohne festen Wohnsitz. Mal übernachtet sie bei Freunden, die sie vom Hauptbahnhof kennt; gelegentlich schläft sie in einem der Betten des Kinder- und Jugendnotdienstes.

Bei ihrer Mutter ist sie eigentlich nur zu Gast. Heute nacht weiß sie nicht, wohin sie soll. Jetzt hängt sie auf der Galerie des Hauptbahnhofes herum. Sie schnackt mit einer Freundin. Kalina geht auf sie zu. „Willst du reden?“ fragt Kalina. Nini blickt nach unten. Dann nickt sie zaghaft. „Ja, gut, ja.“

Oben, im Büro der Bahnpolizei, in der das Neonlicht die hellgrünen Resopalschreibtische noch künstlicher aussehen läßt, bleibt von der coolen Fassade des Teenagers nicht viel übrig.

Nini erzählt von ihrem bevorstehenden Prozeß. Leise und flüssig spricht sie, wendet ihren Kopf nicht hoch, sieht nur auf den Schreibtisch. Nach fast zehn Jahren hat sie sich entschieden, ihren Stiefvater anzuzeigen. Wenn der besoffen war, hat er sie vergewaltigt. Dabei fragte er immer: „Ist es schön so, ist es schön so?“ Das erzählt sie so beiläufig, als berichte sie von einem Fahrradunfall.

Sie flüchtete schließlich Abend für Abend in den Mikrokosmos Hauptbahnhof, wo sie Freunde fand, denen es genauso beschissen ergangen war wie ihr. Irgend jemand hat ihr dann Heroin vorgeraucht. Das fand sie toll. Alkohol? „Nee.“ Fusel trinkt fast niemand von den Bahnhofskindern. Wie diese Droge wirkt, wissen sie von zu Hause.

Nini brauchte anderthalb Jahre, um vom Heroin loszukommen. Ab und zu unterstützt sie ein Sozialarbeiter vom Jugendamt darin, überhaupt Halt im Leben zu finden. Er nennt sie seine „Prinzessin“, und das findet Nini bescheuert, weil doch nur Kinder so genannt werden wollen. Kalina und Wiesenmüller würden sie nie als „Prinzessin“ bezeichnen. Auch das schätzt Nini an den beiden Polizisten.

Jetzt, im Dienstzimmer ihrer Schutzmänner, sagt sie: „Ich bin nur froh, daß ich nicht auf dem Strich gelandet bin, um mir das Geld für die Drogen zu verdienen.“ Sonst „wär's endgültig bergab gegangen“.

Streifengang am Straßenstrich, hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Wer von den zwanzig bis dreißig Jugendlichen, denen der Hauptbahnhof fast ein Zuhause ist, erst einmal auf dem Babystrich am nahen Steindamm landet und anschaffen geht, wird für Hilfe nahezu unerreichbar.

Wie Jenny. Die dürre Siebzehnjährige drückt sich im Eingang zur Wandelhalle rum, ihr jugendliches Gesicht verborgen unter viel Make-up. Heroin läßt die Mädchen abmagern, sie hören auf zu essen, überhaupt kümmern sie sich nicht mehr um sich.

Ein Frauenarzt hat sie neulich mitgenommen, nachdem sie ihm erzählt hatte, schwanger zu sein. „Da hat er mich nachts in die Praxis gefahren und ein Ultraschallbild gemacht“, sagt sie. Ohne Sex. Kalina glaubt ihr nicht. „Der kommt doch sicher wieder, oder?“ – „Nee, der war richtig nett.“

Ein Frauenarzt auf dem Kinderstrich? Das wäre nicht ungewöhnlich. Akademiker, Politiker, Maurer – Freier kommen aus allen Schichten und Generationen. Wiesenmüller weiß sich die Sache mit dem Gynäkologen so zu erklären: „Es gibt ihnen wohl ein sexuelles Machtgefühl, sich mit diesen drogensüchtigen Mädchen einzulassen, die das Geld für den nächsten Trip anschaffen gehen.“

An der schmuddeligen Straße im Bahnhofsviertel St. Georg reiht sich Sexshop an Pornokino, Spielothek an Spelunke. Es blinkt und glitzert an allen Eingängen. Leuchtreklamen und Lichterketten wirken, als sei die Wohnstraße zu grell geschminkt. Mit glasigen Augen starren die minderjährigen Mädchen auf den Bürgersteig vor dem Bahnhof.

„Die geben alles Geld für Heroin aus und vernachlässigen sich total“, sagt Wiesenmüller. Um sie herum kurven Autos aus benachbarten Landkreisen. Manchmal hupt ein Fahrer und wartet, bis ihm eines der Mädchen ungelenk entgegenstöckelt. Meist sind sie so vollgepumpt, daß sie sich kaum aufrecht halten können. Sie plumpsen ins Auto, fahren mit ihm in eine dunkle Ecke und befriedigen ihn mit der Hand oder dem Mund.

Maike steht heute auch da. Oder hat sie sich nur hingestellt, damit Kalina sie bemerkt? „Mensch Maike, was machst du hier? Los, komm, wir gehen weg!“ sagt er halb bittend, halb befehlend. Es ist halb zwei Uhr nachts. Kalina, der Bulle, läuft mit Maike und seinem Kollegen ins Büro. Nach Hause will Maike auf gar keinen Fall. Also rufen die beiden Beamten den Kinder- und Jugendnotdienst an.

Maike setzt sich auf einen Stuhl, den Kopf nach unten geneigt, so daß die langen Haare wie eine Gardine vor ihr Gesicht fallen. „Ich habe keinen Bock mehr, ich will weg aus Hamburg“, sagt sie.

Eine Stunde sitzt sie im Büro der Bahnpolizei und erzählt, daß sie ihr Leben so schrecklich anödet, daß sie sich schon vor die Bahn werfen wollte. Aber selbst dafür muß man ein bißchen Mut aufbringen. Und auch den hat Maike nicht.

Dafür müßte sie auch über ihre Vergangenheit nachdenken, die sie mit Heroin wegrauchen will. Sie schafft es auch nicht, so wie Nini ihre Geschichte scheinbar belanglos herunterzurattern.

Also wird es wieder einer dieser Abende, an dem zwei mißmutige Betreuer kommen, die keine Lust auf noch eine desinteressierte Halbwüchsige haben, die sich abends in die Falle haut und am nächsten Morgen einfach verschwindet. Aber wenigstens hat sie heute nacht ein Dach über dem Kopf. Die letzten sechs Nächte hat sie am Bahnhof gepennt.

Während sie redet, hebt Maike nicht ein Mal ihren Kopf. Als sie aufsteht, sieht sie die Beamten kurz an. Ihre Augen wirken leblos. Sie bleibt einen Moment stehen, als ob sie noch etwas sagen möchte. Dann geht sie mit den Erziehern zum Auto.

Kaum einer der Polizisten findet Zugang zu Maike. Ihrer Sozialarbeiterin traut sie nicht. Nur zu einem scheint sie Vertrauen gefaßt zu haben: Jochen Kalina.

Maike und Jochen passen gut zueinander. Die blonde Kleine und der große, ältere Mann. Das klingt wie ein Film à la „Der Bulle und das Mädchen“. Ein toller Bruder wäre Jochen für sie. Vielleicht ein Vater. Kalina haßt solche Vergleiche. „Ich habe eine Familie mit einer Frau und zwei Töchtern und bin kein Ersatzpapa für Straßenkids.“

So ganz gelingt es ihm aber nicht, einen Graben zu ziehen zwischen seinem Privatleben und dem Job. Denn neulich hat er Maike Fotos von seiner Familie gezeigt. Da war sie ganz zutraulich und hat ihn nach den etwa gleichaltrigen Mädchen ausgefragt. „Die Ältere kommt mehr nach mir, die Jüngere ist ein bißchen flippiger, wie die Mutter“, erzählte ihr Kalina.

Die Nähe zu den Polizisten verwirrt die Jugendlichen. Maike hat Jochen neulich einen Brief geschrieben. Sie wollte mal allein mit ihm reden. Den Brief haben dann andere Polizisten gelesen, weil Maike ihn falsch adressiert hatte. Manchmal geht sie in die Bahnhofswache und läßt ihn über Funk anfordern, wie ein Mädchen im Kaufhaus nach seinen verlorengegangenen Eltern verlangt.

Jochen Kalina ist zweimal gekommen, aber jetzt ist Schluß. Er sagt streng: „Wir dürfen uns nicht zum Affen machen für die Kids. Entweder sie nehmen die Hilfsangebote an oder nicht.“ Er ist zu Maike hingegangen und hat ihr das gesagt, was er ihr schon tausendmal vorher erzählt hat: „Ich bin kein Sozialarbeiter, ich bin Polizist. Wenn du Hilfe brauchst, mußt du dich an deine Betreuerin wenden.“ Maike setzt dann immer einen bettelnden Blick auf, aber Kalina bleibt immer eisern. „Es gibt Grenzen.“

Nach dem zweiten oder dritten Mal in der Wache nehmen die Polizisten die Kids nicht mehr mit, auch wenn sie sie mitten in der Nacht treffen. Sie geben sie auf. Dann fallen die Kinder in ein Loch: Die Polizei kann nichts mehr machen, und die Sozialbehörde wird erst dann aktiv, wenn die Jugendlichen wirklich raus aus dem Bahnhof wollen. In so einem Fall gäbe es ein üppiges Hilfsangebot.

Alle, die Polizei, die Jugendbehörden, sind auf dem letzten Stand, was die Liste der Möglichkeiten anbelangt, die die Bahnhofskinder haben. Jugendwohnungen, betreutes Wohnen, persönliche Betreuung mit Sozialarbeitern, Gespräche mit den Eltern. Nur gezwungen wird keiner. Sie müssen den Willen zum Ausstieg aus der Szene und für einen Neuanfang selbst aufbringen.

Maike hat auch gar keine Lust auf Normalität. Am Hauptbahnhof sind die anderen, die mit ihr Heroin rauchen oder auf der Empore über der Wandelhalle abhängen. Sie glaubt, im Zweifelsfall besser denen trauen zu können. Betreuer sind weit weg – und fordern so lästige Sachen wie die, jetzt mal über das eigene Leben nachzudenken. Dann müßte sie überlegen, ob sie nicht doch in eine Jugendwohnung ziehen will. Das hieße, Verantwortung zu übernehmen und über den Tag hinaus zu denken.

Auf der Suche nach dem, was Leben ist, wandert sie im Bahnhofsviertel umher und trifft jeden Tag und jede Nacht immer irgendwelche „lieben Bullen“, die einem den Weltschmerz auszureden versuchen, wenn die Selbstmordphantasien wieder das Bewußtsein vernebeln. Und die ihr das Gefühl geben, gemocht zu werden.

Schon in der Nacht darauf wird Jochen Kalina Maike wiedertreffen. Aber dann wird er sie kaum noch wiedererkennen. Ihre Haare wild zerzaust, ihr Blick verschwommen, die Augen verweint. Maike kann dann kaum noch gehen. Sie hat vier Heroinpäckchen konsumiert und bibbert nun am ganzen Körper. Aber Kalina wird sie gehen lassen, denn Maikes Freund ist dabei. Sie wird in seiner Wohnung schlafen können.

Wie fühlt sich der Polizist, der doch nicht wirklich helfen kann? „Wir können nur Angebote machen, mehr nicht“, sagt Kalina knapp. „Und das mißverstehen die Kids gerne.“ Jeden Tag fährt er mit dem Rad dreißig Kilometer von seinem kleinen Dorf am Stadtrand zur Arbeit und zurück. „Das tut gut, der Abstand vom Bahnhof zur Familie.“

Die Jugendschützer wissen, daß sie eigentlich nur Polizisten sind, die weder eine sozialpädagogische Ausbildung haben noch den lieben Onkel mimen können. Dennoch: „Wir sind die einzigen am Hauptbahnhof, mit denen die Kids rund um die Uhr Kontakt haben und mit denen sie auch mal ein vernünftiges Wort wechseln können“, sagt Kalinas Kollege Wiesenmüller.

Dabei fällt auch mal die eine oder andere polizeiliche Information für die Beamten ab. In der Freierszene am Hauptbahnhof kennen sie sich aus wie sonst nur die Stricher selbst: Da gibt es etwa den Freier „Hexe“ oder „Honig-Peter“, der so heißt, weil er tagsüber auf Märkten Honig verkauft.

Die Männer stehen abends und nachts am Bahnhofseingang und mustern die Passanten. „Denen können wir nichts nachweisen. Da sind wir machtlos“, sagt Wiesenmüller. Neulich hat ihm einer sogar ins Gesicht gesagt: „Wenn Sie längst pensioniert sind, stehe ich immer noch hier.“ Wiesenmüller geht nächstes Jahr in Rente.

Der bevorzugte Platz der Freier ist das nahegelegene Kaufhaus. In der Spielwarenabteilung drücken sich Jugendliche rum, die keinen Bock auf Schule haben, weil sie ihre Jacken dort einer Jugendgang abliefern müssen oder eine miese Note nach der anderen nach Hause bringen.

Wenn ein solcher Junge an der Nintendospielkonsole Raumschiffe abballert, fragt ihn einer der freundlichen Herren, ob er nicht zu ihm nach Hause möchte. „Da habe ich noch viel mehr Spiele.“

Die Polizisten kennen die Tricks des Gewerbes. Sie gehören zur Alltagserfahrung von Bahnhofspolizisten, die für ihre Schützlinge keine Väter sind und auch keine sein wollen. Kalina und Wiesenmüller können nichts verhindern, sie können nur warnen.

Gelegentlich kommt es sogar zu einer Stimmungswende, zu einem sich scheinbar anbahnenden Happy End. Beispielsweise, als zwei Tage nach dieser Nacht Wiesenmüller und Kalina die gutgelaunte Nini und ihren sozialpädagogischen Betreuer wiedertreffen.

Sie hat eine Neuigkeit, die sie Jochen Kalina gleich mitteilen will: Eigentlich laufe es ja schon ein bißchen länger, aber jetzt sei sie offiziell mit Christian zusammen.

Sie haben sich schon vor längerer Zeit am Bahnhof kennengelernt. Kalina hört zu. Allerdings, sagt Nini, gebe es ein Problem. Ihr Christian sitzt in der Jugendstrafanstalt Hahnöfersand bei Hamburg. Untersuchungshaft.

In der Szene nennen ihn alle „Psycho“, weil er so schnell ausflippt. Mehrere Körperverletzungen und Raubüberfälle hat er schon auf dem Konto. In den örtlichen Tageszeitungen wurde ein beachtlicher Auszug daraus veröffentlicht.

Vor einigen Wochen war er dabei, als sein Freund Patrick einen Ladenbesitzer brutal niederstach und tötete. Sie nahmen die 220 Mark aus der Kasse, gingen ins Kino und sahen sich „Romeo und Julia“ an. Kurz darauf wurden sie geschnappt.

Hat Nini denn keine Angst vor „Psycho“? Da blickt sie auf, sieht ihr Gegenüber aus großen Augen fest an und sagt mit dem Stolz eines Mädchens, das glaubt, einen von der schiefen Bahn geholt zu haben: „Ich kenne auch seine weiche Seite. Im Gefängnis hat er sogar geweint. Und das hat noch keiner gesehen.“

Per Hinrichs, 27, ist Journalist und lebt in Hamburg

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