Press-Schlag: Bei Triebstau ans Pendel
■ In seiner wiederentdeckten Diplomarbeit glänzt Sepp Herberger mit neuen Weisheiten
In der Universitätsstadt Tübingen können sie mit dem Fußball eigentlich schon lange nicht mehr richtig umgehen: Beide Vereine kicken nur in der Bezirksliga und treffen auf der viertuntersten Ebene teilweise sogar auf Klubs aus den eigenen Stadtteilen. Und Rhetorik-Altmeister Walter Jens hat mit dem Thema abgeschlossen.
Nun aber hat sich herausgestellt, daß hier, im fußballerischen Abseits, ein Kleinod des deutschen Fußballs lagert: die Diplomarbeit von Altbundestrainer Sepp Herberger, die der Tübinger Sporthistoriker Dr. Franz Begov vor langer Zeit wiederentdeckt hatte und jetzt der Öffentlichkeit vorstellte. In Herbergers Werk „Der Weg zur Höchstleistung im Fußballsport“, das 1930 mit „sehr gut“ benotet wurde, sucht man seine sprichwörtlichen Weisheiten wie „Der Ball ist rund“ oder „Der nächste Gegner ist immer der schwerste“ allerdings vergeblich. Dafür finden sich Ansätze, die durchaus aktuell sind.
So empfiehlt Herberger in seiner Diplomarbeit, die Spielfähigkeit bei Kindern früh zu entwickeln. Der „Chef“ der Weltmeister-Elf von 1954 bezeichnet dabei den Lehrer als Freund und Berater, der den Bewegungstrieb durch Kleinfeldspiele fördern soll. Doch nicht nur die Kleinen sollen im Ball den „Spielkollegen“ sehen, das Spielerische dürfe auch im Hochleistungsbereich nicht vernachlässigt werden. Den Kombinationsfußball sah Herberger als „Ausweg aus der individuellen Hilflosigkeit“. Das klingt so aktuell, als beziehe er sich auf den mittwöchlichen Auftritt des DFB-Teams.
Im Mittelfeld ist der „Spielertyp“ der entscheidende Lenker, der „Kämpfertyp“ unterstützt ihn mit der Aufgabe „Hin zum Mann am Ball“. Fußball sollte einerseits intuitiv, andererseits aber zweckmäßig und nach System gespielt werden. „Nach heutigen Begriffen ist Herbergers Sprache naive Theorie“, sagt Begov, dem allerdings die reformpädagogischen Ansätze der 126seitigen Arbeit gefallen. „Wenn ich sie heute bewerten müßte, würde ich sagen: Herberger brachte sehr viel Wissen und Erfahrung ein.“
Zu Herbergers Grundsätzen gehörte, daß Frauen bei Lehrgängen unerwünscht waren. Wer sexuelle Bedürfnisse verspürte, dem empfahl der „Chef“ – wie spätere andere Trainer auch – das Üben am Kopfballpendel. Es wurde berichtet, so Begov, daß einmal ein Teilnehmer an einer Fußballfortbildung die Nachtruhe störte, als er für viele hörbar aufstöhnte: „Ich muß ans Pendel!“
Der Arbeitersohn Herberger, der 1927 wegen seiner Fußballkarriere mit einer Sondergenehmigung für „Nichtabiturienten“ zum Studium an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin zugelassen wurde, tat sich an der Universität mitunter schwer. Der Mann, der 1954 den „Geist von Spiez“ beschwor, mußte gar die Psychologieprüfung wiederholen. 1930 allerdings legte er seine Diplomprüfung als Jahrgangs-Erster ab – der damals 33jährige wurde dafür mit der noch heute vergebenen August-Bier-Plakette ausgezeichnet.
Als Sporthistoriker Begov (63) vor 15 Jahren die Bibliothek des Tübinger Instituts für Sportwissenschaft durchforstete, fiel ihm mit der Signatur Y88 Herbergers „Der Weg zur Höchstleistung im Fußballsport“ in die Hände. Ihren Wert erkannte er erst, als er 1997 las, daß die Diplomarbeit nach dem Krieg als verschollen galt.
Das einzige bislang wiederentdeckte Exemplar von Herbergers Arbeit hätte nun auch das Diem-Institut gerne. Begov jedoch hütet seinen Schatz. „Aber ich werde eine Kopie nach Köln schicken“, sagt der Sporthistoriker, der im vergangenen Jahr in den Ruhestand gegangen ist. Nun hat er noch mehr Zeit, um in den Bücherregalen des Tübinger Sportinstituts zu stöbern. Wer weiß, vielleicht fällt ihm dann noch eine Kostbarkeit in die Hände. Eine frühe Handschrift von Max Schmeling etwa würde sich anbieten. Denn Boxen rangiert in Tübingen noch weit hinter Fußball. Thomas de Marco
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