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Ein bißchen Fried, ein Spritzer Benn

■ Der Konzeptkünstler Sergej Dott hat zitatlastige Neonröhren an Häuserwänden installiert

„Daliegen, sich anscheißen und gewaschen werden“ leuchtet in greller Neonschrift von einer Hauswand. Wenige Meter weiter erstrahlen „Himbeeren“ in Rosarot, und auch ein „Büstenhalter“ präsentiert sich grünlich schimmernd. Nun bildet die Fassadeninstallation am Gebäude Senefelder Ecke Danziger Straße mit dem Titel „Die Adern leuchten“ die erste Station eines „Erlebnis-Triptychons“ von Sergej Alexander Dott.

Entlang der Kollwitzstraße soll in Zusammenarbeit mit der Galerie Blickensdorff ein Spaßparcours mit Arbeiten des Künstlers entstehen. Von der ersten Fassade funkeln Zitate vornehmlich deutscher Schriftsteller wie Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Lion Feuchtwanger und Erich Fried in die Nacht hinein. Neckisch-nachdenkliche Sätze und Satzfragmente wie „Deine Eltern haben versehentlich Deine Nachgeburt großgezogen“, „Dein Fleisch besinnt sich auf mein Fleisch“ oder schlicht „jedenfalls“ finden sich nun in roter, blauer, grüner, gelber oder lilafarbener Neonschrift konserviert.

Bis die Texte derart berauschend glühen konnten, trieben die Widrigkeiten des Berliner Wetters Sergej Dott nahezu in den Wahnsinn. „Bei Windstärke acht war eine Montage nicht mehr möglich. Du fliegst einfach mit so 'ner Platte weg. Der blanke Wahnwitz.“ So war bei der Vernissage im öffentlichen Raum nur die Hälfte der ursprünglich vorgesehenen bis zu 250 Zentimeter großen Schriftzüge zu bestaunen. Mittlerweile leuchten jedoch all die kuriosen und bizarren Worte von den Wänden und ziehen die Blicke der erstaunten Passanten auf sich. Der relativen Ernsthaftigkeit der eher ironischen Fassadeninstallation werden zwei Hauswandgestaltungen mit einer Herde bunter, lebensgroßer Kuhfiguren und diverse Neonfiguren folgen. Bei all diesen Projekten spielt Sergej Dott mit der Reaktion des Betrachters, die für ihn wesentlicher Bestandteil des Werkes ist. Losgelöst vom Kontext eines Museums oder einer Ausstellungshalle, greifen die illuminierten Hauswände in den Alltag der Passanten hinein. Auf diese Weise müssen sie sich zwangsläufig mit Sinn und Unsinn des Gesehenen auseinandersetzen. Darüber freut sich wiederum der Künstler: „Die Palette der Reaktionen reicht von Lachen und Freude bis hin zu Empörung und Wut. Doch es ist eine Chance, sich in einer anderen Öffentlichkeit als der einer Galerie zu präsentieren.“ Das Publikum, das sich Dott für seine Außenarbeiten wünscht, dürfte kein allzu großes Interesse an der Verwandtschaft zum Werk von Richard Serra oder Claes Oldenburg zeigen. Das ist gut so, schließlich bereitet es dem Künstler einfach „Spaß, sich mit Hilfe dieser Arbeit in die Gesellschaft und wie sie funktioniert – oder eben nicht – einzumischen“. Dott möchte seine Sinnvorstellungen an die Öffentlichkeit tragen und akzeptiert hierbei auch die mögliche Beschädigung seiner Werke durch aggressive oder zerstörungswütige Passanten.

Nach voraussichtlich einem Jahr werden die Neontafeln der Installation wieder entfernt – das Kunstwerk ist vergänglich. Erfährt die Arbeit in dem Bewußtsein der zeitlichen Begrenzung eine höhere Wertschätzung? Was geschieht mit den aus ihrem literarischen und biographischen Zusammenhang gerissenen Satzfragmenten? Gewinnen sie an Aussagekraft, verlieren sie oder erhalten sie in diesem ungewöhnlichen Kontext einen völlig neuen Sinn? Kann der Betrachter sie mit Bedeutung füllen, wie es ihm beliebt? Erhöht das die Zitate? Die Gedanken vor der leuchtenden Fassade werden abrupt wegen Erfrierungserscheinungen beendet.

Doch die Installation ist ja auch nicht unbedingt für die längere Betrachtung gemacht, sondern vielmehr für die immer wiederkehrende zerstückelte Aufmerksamkeit: bis zum nächsten Mal. Sandra Frimmel

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