Bunte Geckos am Überhang

■ Statt Alpen: Ab heute können sich Freeclimber in Hamburg an eine Polyester-Wand hängen

Die Route führt senkrecht nach oben. Bunt gekleidete Menschen machen sich auf den Weg. So schnell wie möglich, so schwierig wie möglich. Das ist Freeclimbing. Wer allerdings meint, es finde nur in den Alpen statt, ist auf dem steilen Pfad bergab. Sportkletterer bewegen sich an Polyesterwänden fort, Naturfels-Imitaten, von einem Geflecht aus Stahlrohren gehalten, Haken so fest eingemauert, daß sie die Last von drei Elefanten tragen könnten. „Klettern in der Halle ist absolut sicher“, sagen die Aktiven. Klar: Ohne Alpen auch keine alpinen Gefahren. Kein plötzliches Gewitter. Kein Steinschlag. Aber: Auch von Hüttenromantik und Edelweißenthusiasmus keine Spur.

Die Kunstfelsakrobaten stört das wenig. Die Naturliebe hat sie ins unnatürliche Hallen-Erlebnis getrieben. Schwere Bergstiefel wurden mit leichten Turnschuhen und lederne Wanderhosen mit knallig-bunten Tights getauscht. Wie die Geckos kleben Luis Trenkers Enkel an künstlichen Überhängen und Steilwänden. Nicht so scheu, aber mindestens ebenso bedächtig. Denn: „Der nächste Schritt könnte der letzte sein“, weiß Claas Kuhlmann, der seit vier Jahren klettert und nach oben oft der Schnellste ist. Ein Blick auf seine Hände spricht Bände: Zwischen Zeigefinger und Daumen liegt das Schicksal – Absturz oder Aufstieg.

Freeclimber haben im kleinen Finger mehr Kraft als andere im Oberschenkel. Aber auf den richtigen Muskelaufbau kommt es an. „Kraftpakete sind eher hinderlich“, erklärt der 24jährige Sportstudent. Von der Fußspitze bis zur Fingerkuppe, die ganze Spannweite des Körpers wird auf die Probe gestellt. Eine Angelegenheit nur für Extremisten? „Nein“, meint Heidrun Bader, „jeder kann Freeclimbing betreiben.“ Denn im Gegensatz zu anderen Sportarten müsse man keine bestimmten Bewegungen einstudieren, bevor man die Wände hochgeht. „Leichte Personen haben allerdings Vorteile“, schildert die 21jährige, während sie wie eine Spinne im Spagat am Fels hängt.

Vor acht Jahren bereits bestieg der ehemalige Weltmeister Stefan Glowacz ein Hamburger Congress-Hochhaus. Seither hat die Kletter-Szene auch in der Hansestadt ihre Anhänger gefunden. Regelmäßig legen sie ihre Sicherheitsgurte an, und das, obwohl die Möglichkeiten sehr begrenzt sind. Lediglich an der Hamburger Uni sowie in Winsen an der Luhe existieren Kletteranlagen unter freiem Himmel. Nicht selten werden daher Häuser- und Denkmalfassaden von Hasardeuren erklommen. Das ist allerdings illegal.

Die Kaifu-Lodge schafft Abhilfe und holt die Berge nun in die Wohnstube. Dort eröffnet heute Hamburgs erste Indoor-Freeclimbing-Anlage. Der 250.000 Mark schwere „Rock“ ist zwar nur acht Meter hoch, stellt aber auch an professionelle Cliffhanger hohe Anforderungen. „Noch höher wäre abschreckend gewesen“, begründet Geschäftsführer Conny Hasselbach (48), „wir wollen dem jungen, trendorientierten Publikum eine neue sportliche Herausforderung bieten.“ Mit anderen Worten: 16 veränderbare Kraxelrouten verschiedener Schwierigkeitsgrade an einem Rundumfels – geheimnisvoll und verlockend für jeden Kletterfan.

So werden sie sich die Schutzkappen von ihren staubfreien Schuhen streifen, die immer eine Nummer zu klein getragen werden, um das Gespür für die Felsstrukturen und den Anpreßdruck zu verbessern. Im Geiste noch einmal die Griffe durchgehen. In geschmeidigen Bewegungsabläufen und mit perfekter Körperbeherrschung fingern, schieben, ziehen, krallen, sich vortasten, während ihre Hände Halt suchen an irgendwelchen Runzeln, Simsen, Henkeln oder Leisten in der Wand, über die man am Boden nicht einmal stolpern würde. Sie werden nach jedem Meter in einem am Rücken baumelnden Kreidesack greifen, um sich die Hände zu pudern, weil ihnen die Schinderei als Schweiß in ihre Finger fährt. Ganz oben warten kein Gipfelkreuz und Enzian auf Kuhlmann, aber „ein gutes, befriedigendes Gefühl, den Kunstberg besiegt zu haben“.

Oliver Lück

Eröffnung „The Rock“: heute ab 14, Sa und So von 10 bis 18 Uhr, Kaifu-Lodge, Bundesstraße 107.