: Es kann nur besser werden
Der 53jährige „Professor“ klappert tagsüber Sozialeinrichtungen und Buchhandlungen ab, nachts schläft er im Keller eines Studentenwohnheims ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova
Schon bevor das Fenster aufgeht, weiß Michael, was es geben wird. „Lauwarmen Tee, ein trocknes Brötchen und eine Wurst.“ Für den Tee hat er einen Plastikbecher in der Manteltasche. So spart er zwei Mark Pfand, die die Stadtmission am Bahnhof Zoo auf ihre Becher erhebt. Als das Fenster kurz vor Mitternacht geöffnet wird und Michael an der Reihe ist, nimmt er in Empfang, was er prognostiziert hat. „Siehste, der Tee ist wieder nur lauwarm“, sagt er. Es reicht nicht, um die kalten Finger zu wärmen.
Weil die Bahnhofsmission nachts nur die Fensterluke öffnet, müssen die Obdachlosen, die sich manchmal schon eine halbe Stunde vor der Essensausgabe anstellen, draußen essen. Und weil sie in der Halle nicht geduldet werden, nutzen sie die leeren Schließfächer um die Ecke als Ablage. Michael nimmt das erste, direkt am Ausgang, da, wo der Wind besonders stark zieht. Er will sich nicht länger aufhalten als unbedingt nötig. Er ist wegen des kostenlosen Essens gekommen, mehr nicht. Schweigend ißt er seine Portion, holt sich einen Nachschlag und ein Stück Kuchen.
Um ihn herum stehen Männer, die wie er obdachlos sind. Doch außer dem gleichen Schicksal haben sie nichts gemeinsam. Den anderen ist die Obdachlosigkeit anzusehen. Die Sachen speckig, der Geruch streng. „Das ist von der Psychologie her interessant“, sagt er. Viele Obdachlose würden die zahlreichen Angebote zum Duschen nicht nutzen, „weil sie ihren Körper hassen“. Man dürfe es sich nicht so leicht machen und nur den anderen die Schuld am eigenen Schicksal geben, sagt er.
Ihre wenigen Habseligkeiten tragen sie in Pastiktüten mit sich herum. Michael nicht. Er hat seine in einer Beratungsstelle deponiert. So einen „Aldi-Koffer“ würde er höchstens tagsüber benutzen. Wie all die anderen Leute, die vom Einkaufen kommen. Doch abends „wird man abgestempelt“ mit einer Plastiktüte unterm Arm. Genausowenig würde er mit dem Kältebus mitfahren, der nachts Obdachlose einsammelt. Das sei zwar sicherlich eine gute Einrichtung, doch nicht für ihn. „In den Läusepensionen mußt du deine Persönlichkeit an der Tür abgeben“, sagt er. Das kann er sich nicht leisten. Seine Persönlichkeit ist das einzige, was der gelernte Dekorateur und Drucker aus seinem früheren Leben bewahrt hat.
Michael ist 53 Jahre alt. Als er 40 Jahre war, geriet sein Leben durcheinander. Scheidung und Tod der Mutter im gleichen Jahr, Streit mit der Schwester um das Erbe. Wegen der psychischen Belastung konnte er nicht mehr arbeiten. „Ich war an meine Grenzen gestoßen.“ Er verlor seinen Job und die Wohnung. Seitdem lebt er von Arbeitslosenhilfe und ohne feste Bleibe.
Das müssen Außenstehende nicht unbedingt merken, findet er. Deshalb geht er regelmäßig in eine der vielen kirchlichen oder bezirklichen Anlaufstellen, wo er duschen und seine Wäsche waschen kann. Mantel, Jackett, Hose, Hemd, Pullover und Schuhe sind nicht die modernsten, doch sie sind sauber. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, daß die Hose etwas zu kurz und die Haare etwas zu lang sind. Und wenn er spricht, verrät der einzige verbliebene Schneidezahn, daß er jahrelang keinen Zahnarzt gesehen hat.
Was man ihm nicht ansieht, ist, daß er zur Zeit ohne einen einzigen Pfennig auskommt. Vor einigen Wochen wurde er beim Schwarzarbeiten als Kellner erwischt. Deshalb wurde ihm die Arbeitslosenhilfe gestrichen. Irgendwie schafft er es, über die Runden zu kommen. Dreimal am Tag geht er zu Sozialeinrichtungen zum Essen. Die Zeit dazwischen ist klar eingeteilt. Jeden Tag das gleiche. Vormittags vertreibt er sich die Zeit in einem Musikkaufhaus mit Videospielen, nachmittags sitzt er in einer Buchhandlung in der noblen Friedrichstraße und liest. Die letzte Lektüre waren die Aufzeichnungen des Kaufhauserpressers „Dagobert“. Abends guckt er auf der großen Leinwand im Bahnhof Zoo Nachrichten („Man muß ja auf dem laufenden sein“), bis 22.30 Uhr die „Klappe“, das Fenster der Bahnhofsmission, „diesem Bumsschuppen“, aufgeht. „Diese Monotonie geht mir auf den Sack“, sagt er.
So oft es geht, versucht er, diese Routine zu durchbrechen. Es sei eine Frage der Organisation, beim Sozialamt eine Kinokarte zu ergattern. Manchmal hat er auch Glück. So wie neulich, als er einen russischen Künstler kennenlernte, der ihn ins Theater mitnahm. Nur Tanzen war er seit vielen Jahren nicht. Seit 15 Jahren. „Dabei bin ich ein leidenschaftlicher Tänzer.“ Doch ohne Anzug und Krawatte kann er das vergessen. Mit seinen Sachen kommt er aber zumindest in öffentliche Veranstaltungen, wo über den Euro oder das Berliner Abgeordnetenhaus diskutiert wird. Stolz erzählt er, wie er, ein Obdachloser, bei der feierlichen Eröffnung des Potsdamer Platzes Anfang Oktober dabei war. Von den anderen Obdachlosen, die für sein Kulturinteresse wenig Verständnis zeigen, wird er „der Professor“ genannt.
Am längsten sind die Nächte. Auch wenn Michael müde oder krank ist, kann er nicht um neun schlafen gehen. Er muß sich zwar nicht jeden Tag aufs neue den Kopf darüber zerbrechen, wo er die nächste Nacht verbringen wird, weil er einen Schlafplatz hat. Doch den kann er frühestens eine Viertelstunde nach Mitternacht aufsuchen. Erst dann ist die Luft rein.
Seit anderthalb Jahren verbringt Michael die Nächte im Keller eines Studentenwohnheimes. Über eine französische Studentin, mit der er vor Jahrzehnten befreundet war, kannte er das Wohnheim und wußte, daß es im Keller ein Eckchen gibt, wo er unterkommen kann. Durch eine Tür, die immer offen steht, gelangt er vom Hof aus zu seinem Schlafplatz. Der liegt versteckt hinter einer Wand neben einem Treppenabsatz und ist nichts anderes als ein kleiner Zwischenraum, von dem eine Tür zum Lagerraum einer angrenzenden Kantine geht. Weil die erst um Mitternacht zumacht, muß er sich die Nächte draußen um die Ohren schlagen.
Ist die Luft rein, breitet er seine Pappen und den Schlafsack auf dem Boden aus. Tagsüber versteckt er die Sachen hinter einer Tür. Außer einem Aschenbecher auf dem Sicherungskasten gibt es nichts, was auf sein nächtliches Erscheinen schließen lassen könnte. Manchmal schläft er mit Musikbegleitung ein. Denn wenige Meter von seinem Schlafplatz entfernt befindet sich ein Übungsraum, in dem Musikstudenten bis nach Mitternacht das Klavier oder die Querflöte bearbeiten. „Manchmal klingt es grausam“, sagt er. Doch wenn sie fortgeschritten sind, sei es richtig schön. Die Studenten wissen von ihrem nächtlichen Besucher und sind sehr entgegenkommend, erzählt Michael. Nur vor dem Hausmeister muß er sich in acht nehmen. „Dem darf ich nicht über den Weg laufen.“
Keinem anderen Obdachlosen würde er sein Quartier verraten. So dumm war er nur einmal, als er einen Winter in einem Bürohaus „in bester Ku'damm-Lage“ schlief. Mit Heizung und Teppichboden. „Vom Feinsten.“ Doch der andere randalierte im Suff, und so flogen beide raus.
„Der Professor“ arrangiert sich mit seiner Situation, doch abfinden will er sich damit nicht. Denn: „Letzten Endes hängt man doch an seinem beschissenen Leben.“ Natürlich sei es „sauschwer“, damit klarzukommen. Gerade jetzt, kurz vor Weihnachten, gebe es viele schwere Momente. „Wenn ich schmusende Pärchen sehe, tut das schon weh“, sagt er. „Ich bin doch nicht jenseits von Gut und Böse.“ Doch er macht sich nichts vor. Bevor er an eine Beziehung denken kann, muß er seine eigene Situation klären.
Immer mal wieder habe er einen Neustart probiert. „Aber das ist alles nicht so einfach.“ Mehr will er dazu nicht sagen. Er weiß nur, daß er nicht zeit seines Lebens als Bittsteller von Ämtern abhängen will. Und daß die Politik das Thema Obdachlosigkeit nicht dauerhaft ignorieren kann. „Das ist doch nicht nur im Winter ein Thema“, regt er sich auf und meint damit auch die Medien.
Sein Hoffnungsschimmer: eine vage Aussicht auf einen Job als Hausmeister. Seine Befürchtung: Er könnte zu alt sein für den Job. Seine einzige Gewißheit: „Das hier ist nicht das Nonplusultra. Es kann nur besser werden.“
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