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Britannien ist begeistert

Dank Halbfinalist Tim Henman findet die ATP-WM auf der Insel großen Anklang. Ansonsten ist selbst Pete Sampras frustriert  ■ Von Matti Lieske

Hannover (taz) – Wäre Thomas Muster nicht auf Rang 25 der Weltrangliste zurückgefallen und wie in den vergangenen Jahren anwesend bei der ATP-Weltmeisterschaft der acht besten gesunden Tennisprofis in Hannover, würde er sicherlich auch diesmal in gewohnt bärbeißiger Manier herumgranteln. Er hätte jedoch weit weniger Anlaß dazu. Statt dessen hätte er allen Grund, zu frohlocken, daß endlich eingelöst wurde, was er seit Jahren forderte. Immer wieder hatte sich der Österreicher wortreich und energisch dafür eingesetzt, daß die WM in die großen Metropolen geht. Genau dafür will die ATP sorgen, wenn der Vertrag mit Hannover ausgelaufen ist und ein neuer Standort für das Jahr 2000 gesucht wird. Von da an soll das Turnier in jedem Jahr in einer anderen „großen Hauptstadt“ (ATP-Chef Mark Miles) stattfinden, Bewerbungen gäbe es schon aus den USA, Europa und Südamerika.

Noch weit verbissener hatte Muster dafür gekämpft, daß Gerechtigkeit herrsche bei den Jahresabschlußturnieren wie ATP-WM oder Grand-Slam-Cup. Schließlich seien es ganz verschiedene Beläge, auf denen sich die Spieler für diese Ereignisse qualifizierten, also müsse es einen Boden geben, der niemanden benachteilige. In den Jahren eines Boris Becker predigte Muster tauben Ohren, zumal die WM seit 1990 in Deutschland haust, wo der schnellste Boden für den großmächtigen Lokalfürsten gerade gut genug war. Sandplatzspezialisten wie Muster flogen die Asse nur so um die Ohren, und der Österreicher überlegte, ob er nicht zu Hause bleiben sollte. Aber Geld stinkt auch in Wien nicht, also kam er, ließ sich abservieren und verbrachte die restliche Zeit mit Grummeln, Granteln und Gnatschen.

Im Jahr zwei nach Boris geht Attraktivität wieder vor Hausmacht, und der Boden ist nach Meinung aller Beteiligten absolut fair. Ein Hardcourt, nicht zu langsam, nicht zu schnell, bei dem man, so der Spanier Alex Corretja, „angreifen kann, aber, wenn man will, auch hinten bleiben“. Corretja ist Spanier und gilt darob als Sandplatzspieler, was er aber nicht gern hört, obwohl er die meisten seiner Turniersiege auf diesem Belag gelandet hat. „Ich habe es satt, ständig als Sandplatzspieler bezeichnet zu werden“, sagt der 24jährige, „wir sind einfach Spieler. Alles andere ist dummes Zeug.“

In der Tat fällt bei dieser WM auf, daß die Spezialisten fehlen. Außer dem nach Agassis Verletzung nun spielenden Ersatzmann Rusedski gibt es keine reinen Aufschlagmonster, was allerdings auch daran liegt, daß der Niederländer Richard Krajicek wegen Verletzung absagen mußte, und es sind auch keine Spieler am Start, die ausschließlich an der Grundlinie kleben. French-Open-Sieger Carlos Moya etwa holte bei seinem Sieg gegen Karol Kucera 37 Punkte am Netz, spanischer Rekord, wie jemand witzelte.

Es darf wieder Tennis gespielt werden bei der ATP-WM, dennoch will der rechte Glanz nicht aufkommen. Nur Corretja spricht vom „Topereignis des Jahres“, Pete Sampras würde das Turnier etwa an fünfter Stelle einordnen, ein gutes Stück nach den vier Grand Slams. Den 27jährige Weltranglistenchef grämt besonders, daß die Medien in seiner Heimat die WM komplett ignorieren. Kein Journalist aus den USA sei da, klagte er, den heftigen Protest des einzigen angereisten Exemplars hoheitsvoll ignorierend. Nach den US-Open, so Sampras, „ist Tennis für die US-Medien tot“. Gründe für die Geringschätzung des Kräftemessens der besten acht, eigentlich als Saisonhöhepunkt gedacht, sind zum einen das Reglement, zum anderen die Tatsache, daß eben nie die besten acht auf dem Platz stehen. Das System der Gruppenspiele ist den Tenniscracks nach wie vor suspekt. Daß man ein Turnier noch gewinnen kann, wenn man ein Match verloren hat, finden sie zwar angenehm, sobald sie verloren haben, aber ganz ernst nehmen können sie so etwas nicht.

Schwerer wiegt jedoch der körperliche Zustand, in dem die Stars zur WM kommen. „Diese Leute sind hier, weil sie sehr viele Spiele gemacht haben“, sagt Sampras, „und es gibt keinen, der nicht irgendwelche Schmerzen oder Wehwehchen hat.“ Von denen, die sich qualifiziert haben, sind gerade vier halbwegs intakt ins Rennen gegangen, zwei (Rafter und Krajicek) gar nicht, einer (Rios) war Halbinvalide, verlor und zog gestern ganz zurück. Agassi, der tags zuvor ausgestiegen war, kam gesund, zog sich aber bei einem Trainingssturz eine Verkrampfung des Rückens zu, wohl auch ein Zeichen, daß der Körper nicht mehr will. Ausgelaugt sind sie alle, und so ist die einmütige Forderung jene nach Arbeitszeitverkürzung.

Wer aber in der Weltrangliste nach vorn will, muß beim bisherigen und beim künftigen System viel spielen, also bliebe nur eine längere Winterpause, zum Beispiel durch Verlegung der ATP-WM an den Beginn der nächsten Saison. Da das aber mit den Vorbereitungen für die Australian Open kollidieren würde, wären entsprechende Neustrukturierungen des Terminkalenders erst möglich, wenn es ATP und der Internationale Tennis-Verband (ITF) als Grand-Slam-Betreiber schaffen würden, sinnvoll zusammenzuarbeiten. Bis dahin ist es ein weiter Weg, und Ersatzleute wie Greg Rusedski können auch künftig mit der beruhigenden Gewißheit anreisen: „Ich bin sicher, daß ich hier spielen werde.“

Das tat er gestern. Nachdem Landsmann Tim Henman sich mit einem 7:6, 6:7, 6:2 gegen Corretja auch noch als zweiter neben Sampras vorzeitig für das Halbfinale qualifizierte, sind zumindest die britischen Medien ganz aus dem Häuschen über diese ATP-WM.

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