: Die Wühlmäuse wollen nicht mehr wühlen
Nach dem spanischen Finale bei der Tennis-WM hoffen der neue ATP-Weltmeister Alex Corretja und Vize Carlos Moya auf einen grundsätzlichen Imagewandel und strukturelle Verbesserungen in ihrer Heimat ■ Aus Hannover Matti Lieske
Würde es sich bei der ATP-WM um ein Sandplatzturnier handeln, niemand dürfte sich wundern, daß Alex Corretja und Carlos Moya das Finale erreichten. Beide standen sich in diesem Jahr auch schon im Endspiel der French Open gegenüber – damals gewann Moya – und die Spanier gelten seit jeher als eingefleischte Sandplatzwühlmäuse, die in der entsprechenden Saison im Frühjahr emsig Weltranglistenpunkte sammeln und dann den Rest des Jahres Däumchen drehen.
Bei der ATP-WM aber, die auf schnellen Böden in der Halle gespielt wird, waren sie stets nur Randfiguren. Corretja, der gestern seinen Freund Moya mit 3:6, 3:6, 7:5, 6:3, 7:5 schlug, ist erst der zweite Spanier nach Manuel Orantes 1976, der das Turnier der Jahresbesten gewinnen konnte, ansonsten standen seither lediglich zwei Halbfinalteilnahmen durch Bruguera (1994) und Moya (1997) zu Buche. Während sich die Iberer vergangener Tage damit begnügten, im Chor mit Thomas Muster über die Ungerechtigkeit der Welt im allgemeinen und die der schnellen Plätze bei den wichtigen Turnieren im besonderen zu lamentieren, geht die Generation um Weltmeister Corretja (24) und Moya (22) einen neuen Weg. „Die großen Titel gibt es in der Halle zu gewinnen“, weiß Letzterer und ist daher seit Jahren bestrebt, sein Spiel auf den Hardcourts zu verbessern und die verhaßte Dequalifizierung „bloß ein Sandplatzspieler“ loszuwerden. Seit gestern hat er seinen Titel. Im bezug auf sein Tennis ist er damit bereits länger erfolgreich. Vor zwei Jahren erreichte er das Halbfinale der US Open, wo er Pete Sampras im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Erbrechen jagte, der völlig ausgepumpte Amerikaner aber doch noch im Tie-break des fünften Satzes gewann. Der endgültige Durchbruch für Corretja kam jedoch erst 1998. Mit guten Leistungen auf allen Böden katapultierte er sich unter die Top Ten der Weltrangliste, und im Oktober holte er in Lyon als erster Spanier seit 22 Jahren einen Hallentitel. „Es ist normal, daß Leute aus Spanien, die auf Sandplätzen groß geworden sind, zuerst auf diesem Boden gut spielen, und Spieler aus den USA, wo es nur Hardcourts gibt, dort am stärksten sind“, sagt Corretja.
Trotzdem würde er nie auf die Idee kommen, einen Amerikaner als Hardcourtspieler zu bezeichnen. „Wir sind alle einfach Tennisspieler“, lautet seine Devise. Das verhaßte Image aber bleibt hartnäckig haften – sehr zum Ärger von Corretja. Als er zwei Wochen nach seinem Sieg in Lyon nach Moskau kam, berichtet er, habe die erste Frage gelautet, daß er als Sandplatzspieler ja wohl keine Chance auf den Turniersieg habe. Um so mehr genießen die beiden Spanier ihren Auftritt bei der ATP-WM, wo es Corretja, der als eine Art männliche Ausgabe von Arantxa Sanchez-Vicario den Bällen bis ins Publikum nachjagt, am Samstag sogar schaffte, den bis dahin unüberwindlich scheinenden Pete Sampras niederzurennen und niederzuringen. Weitgehend von der Grundlinie, aber auch mit guten Aufschlägen, ausgeklügelter Taktik und einer Portion Glück. Nach drei vergebenen Matchbällen war Sampras am Ende seiner körperlichen und moralischen Kräfte und im Tie-break des dritten Satzes ohne Chance.
„Gott war fair und hat diesmal mir den Sieg gegeben“, erinnerte ein zufriedener Corretja an das Match bei den US Open 1996. „Das wird einige Mäuler außerhalb Spaniens stopfen“, hatte Carlos Moya schon beim Halbfinaleinzug der beiden in Barcelona wohnhaften Freunde frohlockt, sieht die Sache aber auch sportinnenpolitisch. „Das dürfte eine Lektion für gewisse Leute sein. Es ist ein unhaltbarer Zustand, daß wir in Spanien nur einen einzigen Hallenplatz haben“, thematisiert er den Fluch eines guten Klimas. Der einsame Hardcourt befindet sich im Leistungszentrum von San Cugat bei Barcelona, und auch Corretja hält es „im Interesse der Zukunft des spanischen Tennissports“ für dringend notwendig, viel mehr Hartplätze zu bauen. Im Davis Cup zum Beispiel ist trotz aller Fortschritte meist Endstation, wenn Spanien, das immerhin fünf Spieler unter den ersten zwanzig hat, auswärts auf superschnellen Böden anzutreten hat. Dieses Jahr blieb man an der Schweiz hängen.
Es waren allerdings nicht nur die Spanier, die in Hannover von der neuen Machtverteilung im Welttennis kündeten, das viele Jahre lang fest in der Hand von US-Amerikanern, Schweden und Deutschen war. Inzwischen ist nationale Vielfalt angesagt. Ursprünglich für die ATP-WM qualifiziert waren diesmal zwei Spieler aus den USA, ein Chilene, zwei Spanier, ein Australier, ein Slowake und ein Niederländer. Es folgten zwei Briten, ein Russe, ein Tscheche, ein Kroate. Vor einigen Wochen kam sogar jeder einzelne der Top Ten in der Weltrangliste aus einem anderen Land, und völlig neue Tennisnationen werden geboren. Oder wiedergeboren. England zum Beispiel, das mit Tim Henman und Greg Rusedski die Positionen sieben und acht belegt, nachdem es zuvor seit Fred Perry eine Flaute durchmachte, die mehr als ein halbes Jahrhundert dauerte.
In Hannover reichte es noch nicht zum großen Wurf für Englands junge Tennisglorie, dort schlug die Stunde der Spanier, die sich für die Jagd auf die Nummer eins im nächsten Jahr gewappnet fühlen. „Und wenn der liebe Gott auf dem Platz steht“, verkündet Carlos Moya selbstbewußt, „ich versuche, ihn zu schlagen.“
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