■ intershop: Die Meckerrepublik
Jetzt ist es endlich soweit. Die Berliner Republik gewinnt an Form. Die Beamten des Bundespräsidialamtes sind in ihre Büros gezogen, die neue Regierung hat zum ersten Mal in der Hauptstadt getagt. Zwar dauert es fast noch ein Jahr, bevor sie für immer hierher zieht. Aber der bescheidene Anfang, eine Sitzung im Staatsratsgebäude des ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaates, ist doch Grund genug für ein bißchen Jubel. Eine kleine Vorfeier sozusagen. Vielleicht kommt ja jetzt der Ruck, den sich Roman Herzog herbeiwünscht, und vielleicht wird nicht alles anders, aber vieles besser, so wie uns Gerhard Schröder es im Wahlkampf versprach.
Wissen können wir es noch nicht, die neuen Minister sind noch nicht mal einen Monat in Amt und Würden, aber hoffen dürfen wir wohl?
Pustekuchen! Fast jede Zeitung, beinahe alle politischen Magazine, ob gedruckt oder elektronisch verbreitet, haben uns schon jetzt erzählt, daß in Zukunft alles nur schlimmer wird. Die ökologische Steuerreform wird uns ohne Ausnahme ärmer machen, die Abschaffung der 620-Mark-Jobs in ihrer jetzigen Form wird das Heer der Arbeitslosen immens vergrößern, und der geplante Umzug nach Berlin – das kann noch dauern. Das macht aber nichts, weil die neugebackene Koalitionsregierung bestimmt bröseln wird, bevor es soweit ist.
Der Pessimismus kennt keine Grenzen, ja, der ist so ansteckend, daß er schon den Ton angibt. Nicht nur bei der Opposition, sondern auch bis weit in die Koalitionsparteien hinein.
Eigentlich sollte ich mich als Dänin in dieser politischen Novemberstimmung wohlfühlen. Sie erinnert mich nämlich an zu Hause. Der dänisch-norwegische Schriftsteller Aksel Sandemose hat die besondere skandinavische Art, mit Menschen umzugehen, die etwas Neues versuchen, in ein Gesetz festgeschrieben. Die ersten Paragraphen in diesem Jante-Gesetz lauten: Du sollst nicht glauben, daß du wer bist. Und: Du sollst nicht glauben, daß du etwas Besseres bist als wir. Daß dieses Gesetz in Deutschland gern angewandt wird, konnte man schon in den ersten Kommentaren zu Joschka Fischers neuem Außenminister- Outfit erkennen. Aber selbst in Dänemark warten wir etwas ab, bevor wir einer neuen Regierung die Fähigkeit absprechen, etwas besser zu machen. So gnädig sind die Deutschen offenbar nicht.
Deshalb mußte Schröder auch keinen Auftritt vor jubelnden Massen absolvieren nach der ersten Kabinettsitzung im provisorischen Quartier im Staatsratsgebäude. Er braucht es auch nicht. Er will ja nicht, wie Karl Liebknecht im November 1918, die sozialistische Republik ausrufen. Liebknecht hatte seinen großen Auftritt auf dem Balkon des Stadtschlosses. Viele haben damals gejubelt, aber aus der Revolution wurde trotzdem nichts. Ingerlise Andersen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen