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Abschied von der Filmrolle

Das Kino kommt in Echtzeit. Das Europäische Filmzentrum in Babelsberg hält sein Projekt „CyberCinema“ für weit genug entwickelt, daß Filmtransport und Projektion demnächst digitalisiert werden könnten  ■ Von Thomas Winkler

Die Digitalisierung des Films schreitet voran. Nach den Übergängen zum Ton- und Farbfilm befindet sich das Kino momentan im dritten und wahrscheinlich dramatischsten technischen Paradigmenwechsel. Immer mehr Bilder entstehen im Rechner, aus der Postproduktion sind Computer schon längst nicht mehr wegzudenken. Doch alle diese Entwicklungen waren für den Konsumenten bisher quasi unsichtbar, dienten sie doch vor allem der Perfektionierung der Illusion.

Im Europäischen Filmzentrum in Potsdam-Babelsberg aber wird an einer Innovation gearbeitet, die das Erlebnis Kino grundsätzlich verändern könnte. In absehbarer Zukunft dürften Filme nicht mehr vom Negativ kopiert und dann als zentnerschwere Filmrollen durch die Lande geschippert werden. Statt dessen wird der Film eingescannt und per Satellit in Echtzeit in die Kinos übertragen, wo er entweder sofort abgespielt oder auch auf speziellen Kassetten gespeichert werden kann.

Bei der Präsentation Mitte Oktober im Thalia-Kino in Potsdam wurde man zwar von TV-Teams so grell angestrahlt, als würde die Revolution tatsächlich live übertragen, aber bei der Vorführung brach prompt einmal das Bild zusammen. Zu sehen war aber, daß bei einer Leinwand von durchschnittlicher Größe die Qualitätsdefizite kaum bemerkbar sind. Die Auflösung von 1.280 Pixel horizontal ist der eines Filmbildes vergleichbar, Probleme gibt es hauptsächlich noch mit der Helligkeit. Per Satellitenschaltung konnte das Publikum in Potsdam, Brüssel und Dublin gleichzeitig denselben Kurzfilm sehen und anschließend mit dem Regisseur sprechen, der sich im Filmzentrum in Babelsberg befand.

950.000 Ecu hat die Europäische Gemeinschaft dem Europäischen Filmzentrum für sein Projekt „CyberCinema“ gestiftet. Dessen Vorsitzender, Peter Fleischmann, ursprünglich selbst einmal Regisseur („Jagdszenen in Niederbayern“), stimmt die Aktivitäten mehrerer Dutzend Firmen aufeinander ab, die die technischen Voraussetzungen für ein europäisches Netzwerk schaffen, durch das der europäische Film seine alte Bedeutung zurückerlangen soll. Die neue Technik, so Fleischmann, soll nicht nur den Vertrieb billiger machen und kleinen Produktionen die Möglichkeit geben, in mehr Kinos als bisher zu kommen, sondern vor allem helfen, Sprachbarrieren zu überwinden und den Vertriebsvorteil der US-Majors zu brechen.

In Babelsberg geht man davon aus, daß die Probleme, die man beim Projizieren momentan noch hat, im Laufe des nächsten Jahres behoben sein werden. Noch kostet die Projektionstechnik ungefähr 250.000 Mark, soll aber in „drei bis vier Jahren“ so billig sein, daß sich eine Umrüstung für die Kinos lohnen würde. In der Industrie sieht man das entschieden ruhiger. Zwar wird der technische Fortschritt überall interessiert beobachtet, aber allgemein geht man davon aus, daß man mit dem Übergang noch lange ins kommende Jahrzehnt hinein beschäftigt sein wird. Auch bei ARRI, einem der beiden großen deutschen Besitzer von Kopierwerken, geht Pressesprecher Jochen Thieser von einem „sanften Übergang“ aus, und daß sich „die Kinolandschaft nicht brachial ändern wird“.

Wann die neue Technik kommen wird, mag noch unklar sein, aber daß sie kommen wird, da sind sich alle einig. Die Vorteile sind zu offensichtlich: Erreicht das „CyberCinema“, wie es in Babelsberg entwickelt wird, tatsächlich im Laufe des nächsten Jahres die technische Qualität klassischer Filmprojektion, könnten die Verleiher die Kosten für einen Großteil der Filmkopien und den Transport einsparen. Ressourcen würden geschont, da Hunderte, wenige Wochen nach dem Filmstart wieder überflüssige Kopien nicht vernichtet werden müßten. Ein Film könnte ohne größeren finanziellen Aufwand theoretisch in allen mit der neuen Technik ausgerüsteten Kinos weltweit gleichzeitig laufen. Im Prinzip könnte jedes Kino zu jeder Zeit nicht nur den Film zeigen, den der Programmgestalter zeigen möchte, er hätte auch ständig sämtliche Synchron-Fassungen und Untertitelungen zur Verfügung.

Der Nachteil: Alles wird anders, aber wird auch alles besser?

Die Demokratisierung, die sich Fleischmann erhofft, wird nicht eintreten. Glaubt zumindest Heidrun Potschus, Chefin des kleinen Ventura-Filmverleihs. Die findet zwar „interessant, daß die Umständlichkeit des Transports wegfällt, daß man verschiedene Versionen vorrätig halten kann, aber die Marktsituation ist anders“. Gerade ihre Klientel, die kleinen kommunalen Kinos und Off-Häuser, eh schon betroffen von der Flut an Multiplexen, würden sich die Umrüstung bestimmt nicht leisten können. „Entscheidend für den Erfolg eines Films ist nicht die theoretische Verfügbarkeit“, so Potschus, „sondern die Werbung.“ Solange es außer MTV keine europaweiten Medien gibt, macht auch ein europaweit gleichzeitiger Start keinen Sinn, weil keine europaweite Werbekampagne möglich ist. Potschus glaubt statt dessen, daß „eine weitere Polarisierung unterstützt“ wird, denn „die Majors können damit eine ganze Menge Geld sparen“, während es „im Nischen- und Special-Interest- Bereich nicht soviel in Bewegung setzen wird“. Jede technische Innovation wird zuerst von denen eingesetzt, die sich die Technik werden leisten können, und das dürften im Normalfall die großen Filmkonzerne sein. Fleischmann will das mit Fördergeldern für kleine Kinos verhindern.

In der Industrie sieht man der Revolution gelassen entgegen. „Es ist natürlich alles denkbar“, sagt Christoph Lietke, Marketingleiter bei Warner Bros., „aber das ist Science-fiction. Das Geschäft bleibt das gleiche: Jedes Kino wird versuchen, den Film zu spielen, der den meisten Umsatz bringt.“

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