: Nagelprobe für Nigerias Vielvölkerstaat
Am Wochenende finden in Nigeria Kommunalwahlen statt. Sie sind ein erster Test für die Demokratisierung unter Abubakar. Derweil wächst die Gefahr gewaltsamer Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen ■ Von Dominic Johnson
Berlin (taz) – Auf Lagos Island hat der Staat bereits verloren. Im historischen Zentrum der nigerianischen Metropole, wo zwischen Bürotürmen und traditionellen Königsresidenzen Jugendbanden und Mafiosi über ein Gewirr verfallener Straßenzüge herrschen, hat Militärgouverneur Mohammed Marwa den von ihm selbst ausgerufenen Kampf gegen das Verbrechen suspendiert. Marwas Elitetruppe „Operation Sweep“ ist seit Wochenbeginn nicht mehr auf Lagos Island aktiv, nachdem sie eine Woche zuvor drei Jugendliche bei einem angeblichen bewaffneten Raubzug erschossen hatte.
Die Beerdigung der drei am Mittwoch vergangener Woche war zu einem emotionalen Protest gegen die Staatsgewalt geworden, bei dem schwarzgekleidete Jugendliche zentrale Straßen blockierten. Marwas Rückzug aus einem der unsichersten Gebiete von Lagos erfolgt nun kurz vor den Kommunalwahlen an diesem Wochenende, die einen ersten Test für die Demokratisierung Nigerias unter dem neuen Militärherrscher Abdulsalam Abubakar darstellen.
Das Klima vor den Wahlen ist gespannt. Wieder einmal gibt es in Lagos kaum noch Benzin, so daß viele Bürger nicht zur Arbeit oder zu den Märkten können. In einigen Stadtteilen herrscht ein schwelender Kleinkrieg zwischen der „Operation Sweep“ und der radikalen Bewegung des Yoruba-Volkes „Oodua People's Congress“ (OPC), die vom langjährigen Menschenrechtsaktivisten Frederick Fasheun geführt wird und den Fortbestand Nigerias als einheitlicher Staat in Frage stellt. Mehrmals sind OPC-Aktivisten von der Polizei erschossen worden, wobei die Zahl der Toten Streitpunkt ist.
Lagos ist eine Hochburg der nigerianischen Demokratiebewegung und dazu die größte Stadt der Yoruba-Minderheit, die sich traditionell unter der Militärherrschaft in Nigeria ausgegrenzt fühlt. Unter der Herrschaft des im Juni verstorbenen Diktators Sani Abacha, der den 1993 zum nigerianischen Präsidenten gewählten Yoruba-Führer Moshood Abiola ins Gefängnis steckte, wurden unter Yoruba- Führern nationalistische Töne hoffähig. Als einen Monat nach Abacha auch der inhaftierte Abiola starb, kam es zu ethnischen Unruhen und Abspaltungsforderungen. Und seit „Operation Sweep“ auf die Yoruba-Bewegung OPC Jagd macht, stellen sich führende Demokraten vor die radikale Gruppe und setzen damit Nigerias ethnische Spannungen wieder auf die politische Tagesordnung. Gani Fawehinmi, Führer eines Dachverbandes von 65 oppositionellen Gruppen „Jacon“ (Joint Action Committee of Nigeria), behauptete letzte Woche, der Staat wolle „alle bewußten politischen Aktivisten der Yoruba-Nation eliminieren“. Diese Woche rief er zum Wahlboykott auf, da Abubakars Demokratisierungsprogramm eine „gefährliche List“ sei, die Nigeria „an den Rand des Zerfalls“ führen könne. Die größte aus der Demokratiebewegung hervorgegangene Partei, die „Allianz für Demokratie“ (AD), beteiligt sich zwar an den Wahlen, aber ihr Führer Abraham Adesanya warnte unlängst, Yorubas wollten keine „Sklaven“ mehr sein.
Die Radikalisierung prominenter Demokraten in Lagos, zusammen mit dem andauernden Aufstand unzufriedener Volksgruppen im Niger-Flußdelta gegen die dort aktiven Ölkonzerne, stellt den Erfolg von General Abubakars „Demokratisierung von oben“ in Frage. Die Kommunalwahlen am Samstag bestimmen nicht nur über die Gemeindeverwaltungen des Landes, sondern ordnen auch die politische Landschaft neu. Von den neun Parteien, die im Oktober von der Wahlkommission die provisorische Zulassung erhielten, werden nur diejenigen endgültig legalisiert, die am Samstag in mindestens 24 der 36 Bundesstaaten die Fünfprozenthürde überspringen – die Hürde wurde Ende November von zehn Prozent gesenkt.
Zwei Parteien – die PDP (People's Democratic Party) und die APP (All People's Party) – haben sich bislang als Hauptströmungen etabliert. Die APP, auch als „Abacha People's Party“ verspottet, wurde von Anhängern Abachas gegründet, die PDP von Abachas gemäßigten Kritikern innerhalb des nordnigerianischen Establishments. Die PDP hat nun den Coup gelandet, den international respektiertesten Staatsmann Nigerias als Präsidentschaftskandidaten zu gewinnen: Olusegun Obasanjo, 1976 bis 1979 Militärherrscher in Nigeria und der einzige, der bisher freiwillig die Macht an einen gewählten Nachfolger abgab. Von 1995 bis nach Abachas Tod saß er im Gefängnis.
Da Obasanjo auch ein Yoruba ist, spaltet seine Kandidatur die Yorubas. Vor allem gegen ihn richtet sich Fawehinmis Vorwurf, die laufende Demokratisierung sei eine „gefährliche List“. Denn eine Hauptforderung der Demokratiebewegung war bisher, der nächste Präsident Nigerias müsse aus dem Süden kommen, um die Macht der herrschenden Militärelite aus dem Norden zu brechen. Obasanjo kommt aus dem Süden – aber er ist zugleich Teil der Militärelite.
Obasanjos Wiederaufstieg wird nach Überzeugung vieler Beobachter von der herrschenden Schicht gefördert und finanziert. Kürzlich spendete Obasanjo, der sich nach seiner Haftentlassung im Juni als verarmt darstellte, seiner Partei 130 Millionen Naira – umgerechnet 2,5 Millionen Mark. Seine Erklärung, das Geld habe er doch bloß von Freunden bekommen, förderte eher das Mißtrauen.
Die Kritik von Demokraten am Demokratisierungsprozeß der Regierung Abubakar hat noch andere Gründe. Mehrere repressive Dekrete der Abacha-Zeit, unter anderem eines zur grundlosen unbegrenzten Verhaftung mißliebiger Personen, sind noch in Kraft.
Nicht in Kraft ist dagegen eine Verfassung für eine Zivilherrschaft, die klären würde, wie Nigerias Institutionen eigentlich zukünftig aussehen und welche Macht ein gewählter Präsident tatsächlich bekommen wird. Die laufenden Wahlen finden unter Übergangsdekreten des Militärs statt.
Derweil wächst die Gefahr weiterer Konfrontationen zwischen dem Staat und radikalen Gegnern des Militärs.
Am 17. Dezember wollen Oppositionelle einen „Nationalitätenkongreß“ einberufen, um eine Neugliederung des Vielvölkerstaates Nigeria zu diskutieren. Es ist schwer denkbar, daß Abubakar, der seit einigen Wochen immer häufiger vor Gewalt und Separatismus warnt, dies tatenlos hinnehmen wird.
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