„Rassenfrage war Kassenfrage“

■ Ausstellung dokumentiert die Verfolgung jüdischer Anwälte von 1933 bis 1945. Rechtsanwaltskammer finanzierte die zugrunde liegende Studie

„Ich denke sehr oft an die schmackhaften belegten Brötchen, die Sie uns mit saftigen Anekdoten zum Frühstück servierten!“ Die Karte aus Theresienstadt, geschrieben am 28. August 1944 vom 75jährigen Georg Siegmann, deutet das Elend nur an, das der Berliner Anwalt im Konzentrationslager erlitt – kurz danach starb er in Auschwitz; sein Kollege Julius Magnus, bis 1933 Schriftleiter der Juristischen Wochenschrift, verhungerte in Theresienstadt.

Mehr als 50 Jahre danach dringen die Schicksale dieser beiden Berliner Juristen wieder an die Öffentlichkeit: Die Rechtsanwaltskammer der Hauptstadt erinnert sich ihrer jüdischen Kollegen in der Nazizeit. Sie platzt mit der Finanzierung einer Studie und der Ausstellung im „Centrum Judaicum“ in der Oranienburger Straße mitten in die aktuelle Walser-Debatte.

Warum? Weil es bis zum Dritten Reich nirgendwo so viele Juden gab wie in Berlin (mehr als 160.000), nirgendwo so viele Rechtsanwälte (3.400) und nirgendwo sonst war der Anteil der Rechtsanwälte jüdischer Herkunft an der Anwaltschaft so hoch: über 1.800, mehr als die Hälfte.

Jüdische Anwälte, nur etwa zwei Dutzend waren Frauen, prägten das juristische Leben der Stadt. Ihr Anteil in dieser Branche war vor allem deshalb so groß, weil sie in diesem freien Beruf nicht dem latenten Antisemitismus in den Gerichten und Behörden ausgesetzt waren. Sozialer Aufstieg war durch diesen Beruf möglich, Reichtum auch, sogar Ruhm.

Viele Staranwälte der turbulenten Weimarer Jahre vor 1933 waren Juden oder zumindest jüdischer Herkunft: Erich Frey zum Beispiel, Anwalt im sogenannten Immertreu-Prozeß um mafiöse Unterweltbanden – ein Prozeß, der Bertolt Brecht zu seiner „Dreigroschenoper“ und Fritz Lang zum Filmklassiker „M“ inspirierte. Oder Rudolf Olden, der Carl von Ossietzky im „Soldaten-Prozeß“ („Alle Soldaten sind Mörder“) verteidigte, oder Hans Litten, der sich in der zumeist rechtsblinden Justiz der Weimarer Jahre für kommunistische Arbeiter einsetzte und Adolf Hitler 1931 in einem scharfen Verhör bloßstellte.

Gnadenlos wurden die jüdischen Anwälte verdrängt und verfolgt. Über 600 wurden bis Oktober 1933 mit einem Berufsverbot belegt oder mußten fliehen: Dies traf vor allem jüngere Anwälte und fast alle Frauen, denn tätig sein durfte nur noch, wer schon jahrzehntelang Anwalt war oder im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft hatte – viele hatten das übrigens.

Dennoch konnten immer noch fast 1.200 jüdische Juristen in ihren Kanzleien weiterarbeiten. Das waren viel mehr als die 35, die nach den Wünschen der Nazis höchstens noch in Berlin geduldet werden sollten. Deshalb wurde den meisten von ihnen nun auch noch das Notariat entzogen, die wirtschaftliche Grundlage vieler jüdischer Juristen. Nach den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 gab es keine jüdischen Notare mehr in der Reichshauptstadt.

Dennoch konnten sich immer noch über 670 von ihnen in Berlin halten, verarmt viele, sozial ausgegrenzt, verbittert. Doch nun waren sie verzichtbar geworden. Ein paar Wochen nach der Reichspogromnacht vor 60 Jahren erging ein grundsätzliches Berufsverbot für alle verbliebenen Anwälte jüdischer Herkunft. Nur noch 90 von ihnen konnten weiter eingeschränkt juristischen Beistand für jüdische Leidensgenossen geben: Sie durften sich jedoch nur noch „Konsulenten“ nennen – ebenso entwürdigend wie „Kurpfuscher“, die Berufsbezeichnung, die jüdische Ärzte nun tragen mußten.

Etwa ein Viertel der jüdischen Anwälte Berlins kamen in den KZs ums Leben. Knapp die Hälfte konnte fliehen – so etwa der „Immertreu“-Anwalt Frey. Mindestens 23 begingen Suizid – unter ihnen der Hitler-Verhörer Litten.

Profitiert hatten von der Verdrängung, Verfolgung und Ermordung der jüdischen Anwälte „arische“ Rechtsanwälte: Sie übernahmen Klientel und Büros ihrer jüdischen Kollegen. Oder wie der jüdische Anwalt Siegfried Neumann, 1939 geflüchtet nach Shanghai, sagte: „Die Rassenfrage hatte sich als Kassenfrage entpuppt.“ Philipp Gessler

Ausstellung bis 31. 1. 1999 (Oranienburger Str. 28, 10–17 Uhr, Fr. bis 13.30 Uhr, Sa. geschlossen). Grundlage: Simone Ladwig-Winters: „Anwalt ohne Recht“, be.bra verlag.