: Pünktliche Theorie
In 110 Minuten mit dem IC von Altona nach Bremen: Protokoll einer Bahnfahrt ■ Von Wolfgang Duveneck
Dienstag morgen, kurz nach halb sieben, Bahnhof Altona: Eigentlich müßte der Intercity 725 „Spessart“ schon auf Gleis 11 bereitstehen. Planmäßige Abfahrt soll um 6.38 Uhr sein. Doch der IC nach Koblenz trifft erst mit fünf Minuten Verspätung ein. Weitere Minuten vergehen, 6.51 Uhr der Gong: „Einsteigen bitte, der Zug fährt ab“, tönt es aus dem Lautsprecher. Dreizehn Minuten Verspätung.
„Geht ja noch“, meint ein Reisender, „vielleicht holen wir das noch auf“. „Tut uns leid“, sagt eine Mitarbeiterin vom Servicepersonal. „Aber warum der Zug zu spät bereitgestellt worden ist, wissen wir leider auch nicht.“ Hauptbahnhof: Planmäßige Abfahrt 6.53 Uhr. Um 7.07 Uhr geht es weiter – 14 Minuten später.
Zwischen Hauptbahnhof und Harburg rümpfen die Reisenden in den hinteren Erste-Klasse-Wagen plötzlich die Nase: „Riechen Sie das auch?“ Ein übler, beißender Geruch dringt über die Heizungsluft in die Abteile. Einer sucht den Zugchef. Als der IC 725 in Harburg hält, wird das Malheur entdeckt: Eine nicht gelöste Bremse am drittletzten Wagen. Rauch steigt auf. Ein Bahntechniker begutachtet das Problem, klettert unter den Waggon. „Lokführer 725 – bremsen. Jetzt Bremse lösen“, gibt der Zugchef seine Anweisungen.
Lautsprecherdurchsage im Zug: „Wegen eines technischen Problems verzögert sich die Weiterfahrt noch um wenige Minuten“. Der Qualm läßt nach. Der Techniker berichtet dem Zugchef: „Bremse o.k.“ Beim nächsten Halt, in Bremen, sollen die Kollegen noch einmal nachsehen.
Um 7.33 Uhr geht die Fahrt weiter – genau 30 Minuten Verspätung. „Wenn erst einmal der Wurm drin ist, kommt eins zum anderen“, erzählt ein Viel-Bahnfahrer aus Erfahrung. „Gestern mußte ich nach Berlin. 11.44 Uhr sollte der Zug in Altona abfahren. Wegen einer eingefrorenen Tür fuhr er erst 20 Minuten später.“
Im IC „Spessart“ unterhalten sich einige Reisende über die von Bahnchef Johannes Ludewig vor einer Woche angekündigte Pünktlichkeitsoffensive. Die Meinungen sind ungeteilt: „Alles reine Theorie.“
Bremen Hauptbahnhof: Ein Empfangskomitee von Wagenmeistern steht am Gleis 3 bereit, um den kritischen Wagen im „Spessart“ noch einmal zu begutachten. Zehn Minuten dauert die Prüfung, dann schaltet das Signal auf grün. Der Lokführer vorn im Steuerwagen drückt seinen Regler auf Fahrt, die Lokomotive schiebt den Zug weiter in Richtung Koblenz.
Es ist mittlerweile 8.28 Uhr – die planmäßige Abfahrt sollte um 7.47 Uhr sein. 41 Minuten Verspätung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen