Musik zum Auspacken von Geschenken

Weihnachten naht und damit eine Zeit wilder und hektischer Planungen: Was soll man schenken, was kochen, was anziehen? Die Frage jedoch, auf die tragischerweise kaum je ein Gedanke verschwendet wird, lautet: Was soll man hören? Zur Not wird schließlich eine dieser Schallplatten von Rondo Veneziano aufgelegt. Soll Weihnachten allerdings mehr sein als ein Klangbad in billigem Schaumwein, muß man sich schon etwas bemühen. Denn die meisten Weihnachtstonträger, die es hierzulande zu kaufen gibt, sind selst für Menschen mit Sinn für Süßliches ohrenbeleidigend. Ein Streifzug durch die Untiefen des weihnachtlichen Musikmarktes  ■ von Reinhard Krause

Zu jeder Gelegenheit – behaupten zumindest die Verehrer musikalischen Wohlklangs aus der Easy-Listening- Abteilung – gibt es auch die passende Musik. Die hohe Zeit solcher Stimmungsmusik waren die fünfziger und sechziger Jahre. Damals trugen Schallplatten programmatische Titel wie „Musik zum Arbeiten und Studieren“, „Musik zum Bauen von Autos“ und „Alfred Hitchcock: Musik, um ermordet zu werden“. Oder auch „Strippen für den Ehemann“ und „Strippen für den Boyfriend“. Alles kurios und speziell. Aber wie steht es mit einem so naheliegenden Thema wie „Musik zum Auspacken von Weihnachtsgeschenken“? Fehlanzeige, niente, nüschte.

Dabei gibt es wahre Berge von Weihnachtsplatten. Der Gesamtkatalog eines norddeutschen CD-Versands listet für die diesjährige Weihnachtssaison 234 in Deutschland erhältliche Weihnachts-CDs allein aus dem Bereich Pop auf – angefangen bei Peter Alexanders „Wunderschöne Weihnacht“ und endend bei „Xmas Goes Pop & Rock“. Es gibt „Weihnachten mit Andrea Jürgens“, „Weihnachten mit Christian Anders“, „Weihnachten mit den Fischerchören“ und „Weihnachten mit den Flippers“, aber auch „Weihnachten mit Nicole“, „Weihnachten mit Nicki“ und „Weihnachten mit Bernd Clüver“. Doch mag man das Fest wirklich mit diesen Leuten verbringen? Eben.

Das Problem mit deutschsprachigen Weihnachtsalben fängt schon bei der anspruchslosen Auswahl an. Kaum eine dieser Platten kommt ohne „Stille Nacht, heilige Nacht“, „O du fröhliche“ und „Leise rieselt der Schnee“ aus, ob nun von Ivan Rebroff intoniert oder von Nena. Bloß keine Experimente! Wer ein Weihnachtsalbum aufnimmt, steigt auf in die Oberliga der Stars: denen das Publikum alles abkauft und alles vergibt. Ein Weihnachtsalbum ist somit das untrügliche Zeichen für den Anfang vom Ende. Manche (Überlebens-)Künstler schaffen es gar, deren zwei aufzunehmen, Mireille Matthieu etwa oder Freddy Quinn. Udo Jürgens und Roger Whittaker bringen es sogar auf drei.

Auf dem internationalen Sektor sieht es zum Glück etwas bunter aus – auch wenn die „Silent Night“-Versionen von Enya (1988) und Sinead O'Connor (1991) auch nur süßelnd geraten sind. Aber immerhin gibt es in Amerika jahrzehntealte Lieder, die heißen „Rocking Around The Christmas Tree“ „I Saw Mommy Kissing Santa Claus“ oder „Santa Baby“. Da rieselt nicht nur der hochheilige Schnee, sondern da ist auch ein wenig Ironie mit im Spiel. Schon 1957 besang Elvis Presley kein „White Christmas“, sondern ein „Blue Christmas“, ein trauriges Weihnachten.

Längst ist das christliche Fest im angelsächsischen Sprachraum zu einem prima Anlaß für gefühlige Innigkeit geworden, bei der die Kirche im Dorf bleibt. Hier heißen Weihnachtssongs „You Make Me Feel Like Christmas“ oder „Please, Please, Please, Come Home For Christmas“. Inbrunst, die nicht klumpt.

Auch in Großbritannien gab es eine große Zeit skurriler Weihnachtssongs. 1973 etwa erschienen gleich drei ungewöhnliche Singles. Niemals vorher und niemals danach wurde so erwartungsfroh „It's Chriiistmaas!“ gekrischen wie auf der Slade-Single „Merry Xmas Everybody“. Aber Glamrock bestand damals nicht nur aus den heute wieder sehr fashionablen Gruppen wie Slade und T. Rex. Auch die stets in Biboplüsch gewandeten Wombles gehörten dazu. Ihr Weihnachtshit: „Wombling Merry Christmas“. Und auf der Single „I Wish It Could Be Christmas Everyday“ von der Gruppe Wizzard war nach den ersten Takten eine heftig klimpernde Kasse zu hören sowie ein imitierter Furz. In Deutschland fast ein Fall für die Freiwillige Selbstkontrolle, in England ein Riesenhit.

Natürlich ist ein solcher Song Wasser auf die Mühlen von Menschen, die im „Fest der Liebe“ nichts als eine Flucht aus der realen Welt erkannt haben. Für die das Verteilen von Geschenken keine willkommene Gelegenheit darstellt, der matschigsten aller Jahreszeiten ein paar heitere Seiten abzugewinnen, sondern ein tadelnswertes Verschleudern von Ressourcen. Aber selbst diese Menschen werden von der Phonoindustrie nicht im Stich gelassen. Vorausgesetzt, sie haben Freude an Punkmusik. Dann darf gewählt werden zwischen „Punk Christmas“, „Punk Christmas 2“ (beide SPV) und „Punk Rock Xmas“ (Rhino). Gruppen wie The Damned, Bad Frox und Die Toten Hosen singen so desillusionierende Titel wie „There Ain't No Sanity Claus“, „Der Baum brennt“ oder „Knecht Ruprechts letzte Fahrt“. Alles unter dem tapferen Motto „Wenn die anderen feiern“.

Hierzu paßt auch das Lied „Weihnachten und Neujahr“ von Max Goldt beziehungsweise seiner neuen Formation Nuuk und deren bestürzender CD „Nachts in schwarzer Seilbahn nach Waldpotsdam“ (Indigo). „So wie ich mich fühle“, heißt es da, „fühlen sich andere Leute nur, wenn gerade ihre Mutter gestorben ist. Ich fühl' mich immer so.“ Herzlos, wer zu dieser Musik Geschenke auspacken mag.

Sonnigere Gemüter haben vielleicht Freude an der brandneuen Veröffentlichung „Global Christmas“ (Polygram), auf der unbekannte Stars von all around the world auftreten. Wen karibische Steelbandsounds zu Weihnachten nicht stören, kann mit dieser Produktion eine nette Stunde verbringen. Etwas ratlos stimmt allerdings der Umstand, daß die einzige Gruppe, die zwei Titel zu dieser CD beisteuern durfte, „The Klezmer Conservatory Band“ heißt und aus Israel kommt. Nichts gegen globale Weihnachten, aber ob Juden diese Eingemeindung in den christlichen Festkanon auch klasse finden?

Wer lange genug sucht, kann allerdings auch kleine Wunderwerke der Weihnachtsmusik entdecken. 1983 etwa besang die belgoportugiesische Sängerin Lio die Rückseite ihrer Maxisingle „Zip a Doo Wah“ mit lauter Weihnachtsliedern. Erst kommt dort der durch und durch harmlose Klassiker „Sleighride“ und danach das ebenso harmlos klingende, aber abgründige „Noäl“. „Am Dreiundzwanzigsten hast du mir noch gesagt, daß du mich immer lieben wirst. Am Vierundzwanzigsten war's aus mit den Geschenken.“

Und dann ist ihr Ex plötzlich tot, von Lio umgebracht. Gut so. „Man wird dich in einen Fichtensarg legen“, zwitschert sie. Zauberhaft, aber vielleicht doch nicht passend zum Thema „Musik zum Auspacken“. Ein Motto übrigens, das Pat Benatar auf ihrer Veröffentlichung aus dem Jahre 1991, „Please Come Home For Christmas“, gründlich mißverstanden hat. Ms. Benatars Fassung des Standards hört man überdeutlich an, welcher Art ihr Weihnachtsgeschenk sein wird: „Strippin' Around The Christmas Tree“.

Auch frühere Grand-Prix-Siegerinnen nehmen gerne Weihnachtsalben auf, helfen aber auch nicht wirklich weiter. Das Album von Vicky Leandros mit dem Bielefelder Kinderchor aus dem Jahr 1973 hört sich an wie Nana Mouskouri auf Valium; die Schwedin Carola (“Jul“, 1991) klingt wie eine christliche Wencke Myhre, und Céline Dion mag sich nicht festlegen, ob ihre streisandartige neue CD nun Weihnachtsmusik sein soll oder nicht. Deshalb trägt sie den vagen Titel „These Are Special Times“ (Sony).

Gerade will man die Suche aufgeben, da taucht doch noch Rettung auf in Form von Cyndi Lauper und ihrer CD „Merry Christmas... Have A Nice Life“ (Epic). Sie ist noch immer das verrückte Huhn von einst und die einzige, der man den Satz „Ich wollte schon immer ein Weihnachtsalbum aufnehmen“ kichernd abnimmt. Ihre „Christmas Conga“ klingt, als hätten sich Blondie, Boney M. und die Tijuana Brass zu einem Besäufnis am Heiligabend getroffen: „It's time to make the Christmas punch.“ Doch Vorsicht: Wer seine Geschenke zu Cyndis berauschenden Rhythmen auspackt, ist sehr fix fertig.

Was soll man also tun? Im Zweifelsfall greift man in Deutschland gerne auf pünktlich vor Weihnachten erscheinende Alben wie „Weihnachten mit Rondo Veneziano“ zurück. Die fiedelnden und flötenden Perückenträger aus Italien klingen immer nach letaler Überzuckerung, ob nun zu Silvester, zu Ostern, zum Muttertag oder eben zu Weihnachten: eine harte Prüfung in Toleranz.

Mein Weihnachtsmusikmenü in diesem Jahr sieht folgendermaßen aus: Am Vormittag zum Schneeschippen – oder was sonst noch anliegt –, gönne man sich den flotten ersten Teil von Cyndi Laupers Weihnachts-CD, auch den einen oder anderen aufgekurbelten Hit vergangener Jahre (“It's Chriiistmaas!“). Am Nachmittag muß dann allerdings ein musikfreies Stündlein eingelegt werden, damit die Vorfreude nicht in Hysterie umschlägt. Zum Richten der paar Kiefernzweige genügt vermutlich ein halbes „Ave Maria“, am besten mit dem satten Damenbaß von Zarah Leander.

Zum Festmahl empfehle ich dann eine x-beliebige Platte von den Swingle Singers, denn die sind immer so unglaublich elegant, daß es gar nicht erst zu unangebrachter Völlerei kommen kann. Und wenn es dann spannend wird und die Geschenke unter den Kiefernzweigen ausgebreitet sind, dann, ja dann plädiere ich doch wieder für das gute alte „Weihnachtsoratorium“. Denn zu nichts packt es sich so andächtig aus wie zu den Klängen von Johann Sebastian Bach.

Sicher, die vollen drei Stunden durchzuhalten erfordert Sitzfleisch. Aber wenn zum Schluß das dramatische „Mein Schatz, mein Hort ist hier bey mir!“ erschallt, kann man es zur wundervollen Liebeserklärung an den eigenen Schatz ummünzen. Das Christuskind wird schon ein Auge zudrücken.

Sollte es doch zu einem überforderten Magen gekommen sein, kann man ja einen kleinen scharfen Kaffee kochen. Und dazu kommt dann doch noch die „Klezmer Conservatory Band“ zum Einsatz.

Reinhard Krause, 37, ist seit Mitte August Redakteur im taz.mag. Er schreibt gerne über Dinge des schönen Lebens wie Wohnkultur, Musik oder Genußmittel