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Spanische Grippe in der Literatur

„Was schleicht durch alle kriegführenden Länder? / Welches Ding schleift die infizierten Gewänder / vom Schützengraben zur Residenz? / Wer hat es gesehn? Wer nennts? Wer erkennts? / Schmerzen im Hals, Schmerzen im Ohr – / die Sache kommt mir spanisch vor. / ... Das ist keine Grippe, kein Frost, keine Phtisis: / das ist eine deutsche politische Krisis“

Kurt Tucholsky,

18. Juli 1918, „Weltbühne“

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„Unsere Armee hatte gelitten. Die Grippe griff überall stark um sich, ganz besonders schwer wurde die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht betroffen. Es war für mich eine ernste Beschäftigung, jeden Morgen von den Chefs die großen Zahlen von Grippeausfällen zu hören und ihre Klagen über die Schwäche der Truppen.“

General Ludendorff,

„Kriegserinnerungen 1914-18“

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„Die Seuche raste durch die Stadt. Die Krankenwagen der städtischen Sanitätskompanie sausten hin und her zwischen der Stadt und dem Lazarett.“

Alfred Döblin,

„November 1918“

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„Ein paar hundert Pflegerinnen fielen jeden Tag allein in den Münchner Lazaretten aus, der Straßenbahnverkehr wurde eingeschränkt, in den großen Industriebetrieben waren bis zu einem Drittel der Belegschaften ausgeschaltet: es war der erste der apokalyptischen Reiter.“

Karl Alexander von Müller, Münchner Historiker, in seinen Lebenserinnerungen

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„Immer mehr Soldaten erkrankten und schlurften wie halbtot herum. Obwohl sie sich krank meldeten, kam kaum einer ins Lazarett, denn es hieß, es gebe keine Leichtkranken und Leichtverwundenen mehr, nur noch Schwerverwundete und Tote.“

Dominik Richert,

deutscher Soldat

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„Das Fieber ergriff auch die Stadt Berlin und die kaiserliche Regierung. Fünf Wochen war Max von Baden Reichskanzler, fast zwei davon verbrachte er grippekrank zu Bett! Er führte seine Korrespondenz mit Präsident Wilson vom Krankenlager aus. Als Ende Oktober in Wilhelmshaven die Matrosen meuterten, ging es ihm gerade etwas besser. Dann bekam er ,einen heftigen Rückfall‘, er war 36 Stunden bewußtlos, schreibt Arnold Brecht in seinen Erinnerungen. ,Erst am Nachmittag des dritten November erwachte Prinz Max wieder, nur um zu erfahren, daß inzwischen die Türkei und Österreich die Waffenstillstandsbedingungen der Feinde angenommen hatten. Am selben Tag begann die Revolution in Kiel.‘ Ein paar Tage später riefen Sozialdemokraten die Republik aus. Der Kaiser dankte ab.“

Manfred Vasold,

Sozialhistoriker, „Der erste apokalyptische Reiter“, 1993

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