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Produktivkraft Verzweiflung

Vom Handwerk zur Kunst: Im Krimi-Boom der letzten Jahre drohen die literarischen Vertreter des Genres unterzugehen. James Crumley etwa, Spezialist des amerikanischen Nordwestens, oder Dennis Lehane  ■ Von Thomas Wörtche

Wenn eine Sorte Literatur allzu direkt auf den „Markt“ bezogen hergestellt wird, dann bleibt ihr logischerweise nicht allzuviel künstlerische Substanz. Der hysterische Krimi-Boom der letzten Jahre hat Tausende Bücher hervorgebracht, bei denen es völlig egal ist, ob sie geschrieben wurden oder nicht – eine quantitative Scheinblüte. Nichts gegen die Markterfolge der diversen Ex-und-hopp-Schmöker von Ingrid Noll bis Elizabeth George (die sind als Lesefutter völlig legitim), aber man sollte sich schon darüber einig sein, daß „Literatur“ etwas anderes ist.

Handwerk zum Beispiel macht noch lange keine Kunst. Der Brite Philip Kerr ist dafür ein schönes Beispiel. „Der Plan“ (Wunderlich, 42 Mark), sein neuester Roman, ist wie immer glatt, amüsant und schnell. Es geht, ganz in der Tradition der caper-novel, um den ultimativen, großen Coup. Mit Hilfe eines russischen U-Boots möchte ein an sich recht erfolgloser, kleinkrimineller Lumpi ein paar Zentner schwarzes Bargeld abgreifen, das in einem abenteuerlichen Schwimmgerät zum Transport von Luxusjachten über den Atlantik unterwegs ist. Allerlei Volk mischt mit, das man kennt, aber nicht so genau, weshalb man alles mögliche zusammenfabulieren kann: Drogenbarone, La Mafia (auch russisch), eine supergeheime FBI- Einheit und diverser technischer Firlefanz. Die Story flutscht runter wie Softeis, und drei Stunden später weiß man nicht mal mehr, wie die Protagonisten geheißen haben. Marktkalkulation aufgegangen, Halbwertszeit null, ein Heftchen erste Sahne, als teures Buch ein schlechter Scherz.

Die andere Variante des Booms ist der „Das kann ich auch“-Effekt. Das Autorenstichwort in Till Bastians „Eine Hand im Park“ (Knaur, 12,90 Mark) etwa droht an, daß der Autor sich nach „vielen erfolgreichen Sachbüchern zu Friedensforschung, Psychologie und medizinischen Themen“ nunmehr dem „Kriminalroman zugewandt“ habe. Warum nur, warum? Till Bastian ist der Sohn von Gerd Bastian, aber das kann ja kein Argument sein. „Eine Hand im Park“ ist, rein sprachlich, einer der peinlichsten Texte, die mir in letzter Zeit begegnet sind. Zudem eine subdiskutable Aneinanderreihung von „Müncheniaden“, die in dortigen Schickimicki-Kreisen erwähnenswert sein mögen (nachdem außer Frau Csampai jetzt jeder Münchener Promi „Krimis“ schreiben muß), garniert mit hanebüchenen Verbrechen (unter anderem ein Mafiakiller, der noch nicht mal als Parodie funktioniert), sinnlosen Nebenfiguren und dramaturgisch unsinnigen Betrachtungen zur Münchener Gastronomie. Immerhin zeigt der Friedensforscher Bastian, daß er von Gewalt und Verbrechen so überhaupt nichts versteht. Das beruhigt ja ungemein.

Die dritte Variante: Wollen, aber nicht können. Der Londoner Patrick Dillon wollte mal zeigen, was politischer Druck bei Polizeiarbeit alles anrichten kann, vor allem in der Psyche eines Polizisten, der in unerwünschte Richtungen ermittelt. „Nichts als Lügen“ (Knaur, 14,90 Mark) heißt der diesbezügliche Roman, der tatsächlich über lange Passagen sehr schön paranoid und verzweifelt ein Labyrinth aus subtilem Druck und offener Gewalt inszeniert, in dem sich der Protagonist, Chief Inspector George Haviland, zu verlieren droht. Die Jazzmania des Buches ist zwar ein bißchen arg von John Harvey abgekupfert (damit durfte man nach dem Erfolg von Harveys Resnick-Romanen rechnen), aber immerhin atmosphärisch stimmig. Das Buch scheitert jedoch, weil Dillon sich keinen Pfifferling darum schert, wie Polizeiarbeit aussieht. Das heißt nicht, daß so eine Geschichte prinzipiell unmöglich ist, aber sie könnte nie und nimmer so laufen, wie Dillon das behauptet. Auch britische Polizisten sind keine Monaden. Deswegen haben wir hier einen Roman über Nichtexistentes, der so tut, als ob er ein Stück Realität erzählt, und demzufolge auch nicht als Märchen taugt.

In die Abteilung phantasmagorischer Märchen mit ästhetischem Mehrwert gehört „Seelenverkäufer“, das neue Buch von John Straley aus Alaska, (Manhattan, 20 Mark). Ein Kreuzfahrtschiff, daß die nordpazifische Küste hochschippert, dient als merkwürdiges „Euthanasie“-Unternehmen für Aidskranke im finalen Stadium, und PI Cecil Younger ist mit an Bord. Hier ist die Fiktion literarisch so stark inszeniert, daß der üble Traum, in den Younger gerät, plausibel wird, trotz abgehackten Händen in Eiskübeln, rätselhaften Bären und karikaturistischen Schilderungen von müßiger Kreuzfahrtsklientel. Straley verzahnt seinen abenteuerlichen Plot immerhin mit scharf beobachteten Details über Leben und Treiben in einem vermutlich nur für Naturfreaks goutierbaren Eckchen der USA und hat dafür überzeugende sprachliche Mittel.

Der amerikanische Nordwesten als literarische Landschaft ist natürlich – hi, Jack London! – nicht auf Straleys Mist gewachsen. Ihr gewichtigster literarischer Repräsentant in den letzten 20 Jahren ist James Crumley, weit übers Genre hinaus. Deswegen Lob für den Piper-Verlag, der endlich die deutsche Erstausgabe des ersten Milodragovich-Romans herausbringt: „Schöne Frauen lügen nicht“, im Original: „The Wrong Cace“ – aus dem Jahr 1975 (16,90 Mark). Milton Chester Milodragovich ist bekanntlich ein erfolgloser Privatdetektiv, der jahrzehntelang auf seine Erbschaft warten muß. Aber das ist angesichts der Prosa von Crumley ziemlich nebensächlich. Wichtig ist das Porträt einer amerikanischen Kleinstadt am Fuße der Rockies – aus der Perspektive der Außenseiter, der Kampftrinker und Kiffer, für die der amerikanische Traum ein bißchen anders aussieht. Crumley ist jedoch kein „sozialkritischer Autor“, sondern einer, der Rausch, Exzeß und auch Verzweiflung als Produktivkräfte begreift – und zwar wortmächtig, romantisch, brutal und zärtlich. Man kann Crumleys Prosa nicht in Thesen über die Welt rückübersetzen, und das ist sein stärkster Vorzug. Die Ballade vom kleinen toten Bruder einer merkwürdigen Schwester – eine Reverenz an Chandlers „Little Sister“ – funktioniert genau so, wie Crumley sie erzählt. Und nicht anders.

Einen beachtlichen Newcomer gibt es auch: Dennis Lehane aus Boston. „In tiefer Trauer“ – sein drittes Buch (Ullstein, 16,90 Mark) – ist eine gemeine, misogyne, politisch ganz und gar unkorrekte étude noir über einen alten Topos: die Femme fatale. Auch alte Topoi können wiederbelebt werden, wenn man es kann. Lehane kann es mit erstaunlichen Handlungstwists und blitzschnellem Verschieben von Blickwinkeln. Sein Kunstgriff ist einfach, aber wirkungsvoll: Er verdoppelt den einen Blickwinkel auf die Welt, den PI-Romane normalerweise haben, indem er den Privatdetektiv verdoppelt und gender-, aber nicht rollenmäßig quotiert: Patrick Kenzie und Angela Gennaro sind ein gemischtes Doppel, bei dem die weibliche Hälfte womöglich noch ausgekochter und robuster zur Sache geht.

Der Roman ist zwar durchgängig ein Zitat aus alten Mustern, aber einer der seltenen Fälle, in denen dieses Prinzip gutgeht. Daß eines der stärksten Bücher der Saison eine Art Meta-Roman ist, erzählt allerdings Bände über den Zustand des Genres. Siehe oben! PS: Wenn doch Verlage nur ihre Leser mittels Redaktion o. ä. wenigstens vor den schlimmsten Blamagen der Übersetzer schützen würden: Sätze wie „Sie war gebürtig aus Guatemala“ (Lehane/Ullstein) versauen Romane ohne Not.

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