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Fluchthelfer vor Gericht

■ 1962 wurde ein DDR-Grenzer an der Berliner Mauer erschossen. Seit gestern steht nun ein 67jähriger wegen Mordes vor Gericht. Er hatte seiner Familie zur Flucht in den Westen verholfen

Erstmals muß sich seit gestern vor dem Berliner Landgericht ein Westdeutscher wegen Mordes an einem DDR-Grenzsoldaten verantworten. Der heute 67jährige soll 1962 den damals 20jährigen Gefreiten Reinhold Huhn während einer spektakulären Fluchthilfeaktion erschossen haben. Noch vor Anklageverlesung wurde der Prozeß nach einem Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen die Berufsrichter auf Freitag vertagt.

Der Fall, nur ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer, hatte auch durch die unterschiedlichen Ermittlungsergebnisse in Ost und West für Aufsehen gesorgt. Die DDR sprach von Mord durch einen Fluchthelfer. Die Westberliner Staatsanwaltschaft meinte hingegen, der Soldat sei versehentlich von eigenen Kameraden erschossen worden. Erst nach der Wende kam es, auch aufgrund von Stasi- Akten, zu einer Anklage.

Nach heutiger Überzeugung der Staatsanwaltschaft hatten der Angeklagte und seine zwei Brüder vom Gelände des Axel-Springer- Verlages im Bezirk Kreuzberg nach Mitte einen Tunnel unter der Grenzanlage hindurch gegraben. Am 18. Juni 1962 holte er seine Ehefrau, eine Schwägerin und seine zwei Kinder in Ost-Berlin ab, um sie zum Tunnel zu bringen.

Nahe der Grenze wurde die Gruppe nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft von dem Grenzsoldaten Huhn angesprochen, der vorschriftsgemäß nach den Ausweisen fragte. Der Angeklagte habe erst die Suche nach seinem Ausweis in der Jackentasche vorgetäuscht, dann plötzlich seine Pistole gezogen und auf den Grenzposten aus kurzer Distanz mit Tötungsabsicht geschossen. Danach habe er einen zweiten Schuß auf das schon zusammengebrochene Opfer abgegeben. Dem Angeklagten und seinen Verwandten gelang anschließend die Flucht durch den Tunnel. Im Westen bestritt er dann die Tat.

Zum Prozeßauftakt bemängelte die Verteidigung Formulierungen der drei Berufsrichter im später wieder ausgesetzten Haftbefehl gegen den Angeklagten. Durch Formulierungen wie „der 20 Jahre junge“ Grenzsoldat und ein „das Herz zerfetzender“ Schuß hätten die Richter ihr besonderes Mitgefühl mit dem Opfer ausgedrückt und nicht die notwendige Distanz gewahrt. Dies führe zur Besorgnis der Befangenheit. Über den Antrag muß nun eine andere Kammer des Gerichts entscheiden.

Das Opfer Reinhold Huhn wurde seinerzeit posthum gefeiert und befördert: Die DDR benannte eine Straße nach ihm und errichtete eine Gedenkstelle. Für den Prozeß sind zunächst zwölf Verhandlungstage bis Ende Februar 1999 anberaumt. dpa

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