Geiseln in der frostigen Heimat

Im Nordosten Rußlands fallen bei Temperaturen bis minus 30 Grad Heiz- und Kraftwerke aus. Schuld sind Heizölknappheit und Versagen der Behörden. Die Menschen besinnen sich wieder auf Kohleöfen wie in den 20er Jahren  ■ Von Barbara Kerneck

Moskau (taz) – Ein wichtiger Teil der gesamtrussischen Scheiße ist dieses Jahr in den Abflußrohren gefroren – mancherorts periodisch und mancherorts auf Dauer, besonders häufig in den Permafrostgebieten. Dafür aber kocht dort der Zorn der BürgerInnen.

Den regelmäßigen Ausfall der Heiz- und Kraftwerke verdanken jene Regionen, die eigentlich besonders auf sie angewiesen wären, einer Kombination von Heizölknappheit, verschlampten Wartungsarbeiten und bürokratischen Kompetenzstreitigkeiten. Über der Augustkrise vergaß die Zentralregierung in Moskau zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Heizöllieferungen für die Vorposten des russischen Imperiums im hohen Norden und fernen Osten. Seit November berichtet die russische Presse über Kranke in Operationssälen und Frühgeborene in Inkubatoren, die wegen der dortigen Stromausfälle sterben mußten.

Völlig unbeheizt waren vergangene Woche bei Temperaturen bis zu minus 30 Grad zum Beispiel ganze Viertel der fernöstlichen Stadt Wladiwostok, mit fast 10.000 EinwohnerInnen. Die WladiwostokerInnen suchten Zuflucht bei elektrischen Heizöfen oder bohrten Abluftlöcher durch die Außenwände ihrer Hochhäuser, um „Burschujki“ – mit Holz oder Kohle beheizbare Miniöfchen – zu installieren.

Die in Rußland am Ende des 20. Jahrhunderts parallel zum Internet und zur welteiten Eroberung des Weltraums wiederentdeckten Burschujki waren schon in den zwanziger Jahren im Schwange. Die von der Kälte direkt betroffenen Familien des Landes schützen sich diesmal auf traditionelle Art, indem alle Mitglieder – mit Hund, Katze und sonstigen wärmespendenden Haustieren – unter das größte greifbare Federbett schlüpfen.

Anfang Dezember kamen die WladiwostokerInnen allerdings unter ihren Bettdecken hervor und protestierten auf den Straßen lautstark gegen die ewigen Heiz-Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Stadt- und der Hafenverwaltung. Letztes Wochenende reagierte endlich Präsident Boris Jelzin, indem er Wladiwostoks Bürgermeister, Wiktor Tscherepkow, per Ukas absetzte. Den Tscherepkow spinnefeinden Gouverneur der Region, Nasdratenko, ernannte er bis zu den für Mitte Januar angesetzten Kommunalwahlen zum „Übergangsbürgermeister“. Der Gestürzte gab inzwischen zu bedenken, daß der Präsident es sich eigentlich kaum anmaßen dürfe, einen immerhin vom Volke selbst gewählten Amtsträger abzusetzen.

Weil wenig geheizt wird, kühlen die Rohre in den Energie-Krisengebieten tiefer ab, als zulässig. Deshalb brachen vergangene Woche in der fernöstlichen „jüdischen Autonomen Republik“ Birobidschan und im nordsibirischen Jakutien mehrere Fernheizwerke zusammen. In Birobidschan traf die Katastrophe 2.610 Menschen, darunter 850 Kinder. Evakuiert wurden ganze Dörfer in beiden Regionen. Aufnahme fanden die SiedlerInnen am häufigsten in der Nachbarschaft, am liebsten in sogenannten autonomen Häusern – wobei das Wörtchen „autonom“ bedeutet, daß diese mit Öfen geheizt werden.

Ebenso spannend wie gespannt ist die Lage auf Kamtschatka, der alleröstlichsten Halbinsel der Russischen Föderation. Bereits fünfmal im Herbst und Winter dieses Jahres wurde hier angekündigt, alle Heizölvorräte seien am Ende. Zum letzten Male geschah dies am 11. Dezember. In den letzten Tagen war die Hauptstadt Petropawlowsk ohne Strom, während die Verantwortlichen sich bemühten, die Heizungsrohre warm zu halten. Nach einigen Bibbertagen traf aber am Sonnabend ein rettender Tanker vom Festland ein. Wie immer in diesem Winter, mußten ihm Atomeisbrecher den Weg bahnen – zweifellos eine besonders energieaufwendige Methode, Energie zu liefern. Gestern früh dockte der Tanker „Abakan“, mit 5.500 Tonnen Heizöl in Petropawlowsk an. In dieser Woche soll ein weiterer Tanker, der „Orient-Express“ mit 2.500 Tonnen folgen.

Ganz Kamtschatka bräuchte keinen Mangel an Heizungswärme zu leiden, wenn sich die Planer entschlossen hätten, anstatt des für die Region exotischen Heizöls, zu diesem Zweck die reichen Erdgasvorkommen und Thermalquellen zu nutzen. Weit schlimmer betroffen als die Hauptstadt, sind mehrere Dörfer. „Wir sind Geiseln in unserer Heimat“, sagte einer der Einwohner der Fernsehgesellschaft NTV, „weil wir nicht wissen, wohin wir flüchten könnten.“