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„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“

Martin Dahlin war ein Strafraumstürmer, der die Kollegen laufen ließ und selbst dafür die Tore machte. Doch für den Hamburger SV hat er kein einziges Mal getroffen. Warum nicht?  ■ Von Clemens Gerlach

Hamburg (taz) – Gerade hatte es sich Martin Dahlin im VIP-Bereich des Hamburger Volksparkstadions gemütlich gemacht, da hörte er, wie jemand in seine Richtung rief: „Thomas, hallo, Thomas!“ Verwundert hielt der HSV- Stürmer inne, widmete sich dann aber wieder der Kontemplation. Der wüste Rufer blieb jedoch dran und rückte näher, bis er vor Dahlin zum Stehen kam. „Hallo, Thomas!“ wiederholte der hochrangige HSV-Funktionär, der offenbar glaubte, den Mittelfeldmann Thomas Gravesen vor sich zu haben. Däne gleich Schwede? Auf jeden Fall: ein Mißverständnis, und nicht das letzte.

Ach, wenn's doch nur der falsche Vorname wäre. Für einen Pflichtspieltreffer würde sich Dahlin (30) wohl sogar Uwe oder Frank nennen lassen. Seit fast zwei Monaten ist der einst so effektive Stürmer – für Borussia Mönchengladbach erzielte er in 125 Bundesligaspielen 60 Tore – in Hamburg. So lange wartet er auf ein Erfolgserlebnis. In dieser Zeit ist auch die spätsommerliche Euphorie beim HSV verschwunden. Seit neun Spielen ist man ohne Bundesligasieg. Auf der Suche nach Gründen hat die Boulevardpresse schon einmal durchgerechnet: Acht torlose Auftritte, macht, je nach Mathematikkenntnissen der einzelnen Redaktionen, zwischen 548 und 610 Spielminuten, ohne daß die „Dahlin-Orgel“ (Volksmund) losgeheult hätte. Nur: Woran liegt es, daß der von den Blackburn Rovers für 400.000 Mark ausgeborgte Kicker nicht vollstreckt?

An der Umgebung vermutlich nicht. Dahlin sagt: „Ich finde Hamburg toll.“ Der Ferrari-Fan bewohnt ein mit Sauna und Whirlpool aufgerüstetes 160-Quadratmeter-Apartment, aus dem bereits Boris Becker auf die Außenalster blickte. Schon mal eine klare Verbesserung zur nordenglischen Industriegemeinde, findet Dahlin: „Blackburn mochte ich nicht, deshalb habe ich in Manchester gewohnt, mußte fast zwei Stunden zum Training fahren.“ Mit seinem beruflichen Umfeld hat Dahlin auch keine Probleme. Seine Kollegen loben ihn, wenn dem mit über anderthalb Millionen Mark Jahresgage bestbezahlten HSVer im Training etwas gelingt. „Schön, Dahle, weiter so“, muntern sie ihn auf.

Und beim Auslaufen, wo Dahlin gut mithält, wird ordentlich geflachst. Denn nach sechs Jahren in der Bundesliga („da habe ich mich immer wohlgefühlt“) beherrscht der ehemalige schwedische Nationalspieler die deutsche Sprache. Darauf wird hierzulande viel Wert gelegt, weil es das Einleben beschleunigen soll.

Für HSV-Coach Frank Pagelsdorf war auch das ein Grund, den gewieften Dahlin „völlig ohne Risiko“ vorerst bis Saisonende zu verpflichten. „Wer ein Fragezeichen hinter ihn setzt, hat keine Ahnung“, meinte der Trainer ursprünglich und versprach nicht nur sich: „Durch Yeboah haben die Gegenspieler schon Kopfschmerzen, das wird durch Dahlin noch verstärkt.“

Doch nun hat Pagelsdorf einen dicken Schädel und anscheinend die Nase voll. „Unterm Strich ist bei ihm nichts herausgekommen“, mosert der selbst für seine verfehlte Einkaufspolitik in die Kritik geratene Übungsleiter. Bis vor kurzem hatte Pagelsdorf noch versichert: „Solange Martin sich weiterhin bemüht, setze ich auf ihn.“

Dahlin, der schon bei AS Rom („die Sturmkonkurrenz war zu groß“) und den Blackburn Rovers („ich hatte viel Pech“) nicht an seine Gladbacher Form anknüpfen konnte, sieht allerdings keinen Grund, sich in Frage zu stellen. „Ich habe mir nichts vorzuwerfen, uns fehlt einfach ein Spielmacher“, analysiert er.

Dahlin ist Diskothekeninhaber, seine Freundin arbeitet als Popsängerin. „You Got What I Want“ singt sie, und Dahlin sagt: „Ich habe viel Humor und nehme das Leben leicht.“ Diese Einstellung hinderte ihn nicht daran, sich mit dem zweiten Zeugwart des HSV zu schlagen, der ihn nach dem Spiel gegen Frankfurt ermahnt hatte, einen Zahn zuzulegen („Geh endlich duschen!“).

Auf dem Spielfeld ist Dahlin nur selten spritziger. Er biete „Fußball in Zeitlupe“, lästerte das Hamburger Abendblatt unlängst über Dahlin, der noch „zwei, drei Jahre auf hohem Niveau spielen will“. Anthony Yeboah liebt es subtiler. Der Kollege habe ihm durch seine Laufwege viele Räume geöffnet, lobte der HSV-Sturmführer seinen bisherigen Angriffspartner nach dem 3:0 gegen Gladbach, den alten Klub des Schweden. Yeboah schoß alle Tore und sagte später: „So stelle ich mir unser Zusammenspiel vor, es hat Spaß gemacht.“ Früher war es Dahlin ein Vergnügen, die anderen für sich laufen zu lassen.

Die HSV-Fans haben ihn längst auf dem Kieker. Die „Dahlin raus!“-Rufe sind inzwischen Standard. Nun scheint Pagelsdorf, der bis zum Frühjahr „genau beobachten“ will, ob Dahlin für zwei Millionen Mark Ablöse endgültig übernommen wird, die Anhänger erhören. In der letzten Begegnung dieses Jahres gegen den 1. FC Nürnberg wird Dahlin morgen vermutlich nicht zur ersten Elf gehören. Wenn er Pech hat, muß er sich das Spiel aus dem VIP-Raum angucken und die Frage hören: „Was ist los? Bist du verletzt, Thomas?“

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