: Kollektive Experimente
Die Wissenschaft ist tot, es lebe die Forschung. Es geht nicht mehr um die Stiftung von Ordnung in einer chaotischen Gesellschaft, sondern um das Hinzufügen unsicherer Zutaten. Je mehr eine Wissenschaft mit Gesellschaft verwoben ist, desto besser. Ein Essay ■ Von Bruno Latour
Die wissenschaftliche Entwicklung in den letzten eineinhalb Jahrhunderten war atemberaubend, aber auch das Verständnis dieses Fortschritts hat sich dramatisch gewandelt. Die Kultur der „Wissenschaft“ geht über in eine Kultur der „Forschung“. Wissenschaft bedeutet Gewißheit, Forschung Unsicherheit. Wissenschaft gilt als kalt, klar und entrückt, Forschung ist warm, engagiert und riskant. Wissenschaft beendet Streit, Forschung erzeugt Kontroversen. Wissenschaft schafft Objektivität, indem sie sich bemüht, den Fesseln von Ideologie, Leidenschaften und Gefühlen zu entkommen; Forschung bedient sich all dessen, um ihre Untersuchungsgegenstände bekannt zu machen.
Im traditionellen Modell war die Gesellschaft das Fleisch eines Pfirsichs und die Wissenschaft ihr harter Kern. Die Wissenschaft sah sich umgeben von einer Gesellschaft, der die Funktionsweise der wissenschaftlichen Methode fremd blieb: Die Gesellschaft konnte die Ergebnisse der Wissenschaft zurückweisen oder akzeptieren; sie konnte deren praktischen Konsequenzen gegenüber feindlich oder freundlich eingestellt sein. Aber es gab keine direkte Verbindung zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem größeren Zusammenhang einer Gesellschaft.
Galilei beschäftigt sich mit dem Schicksal fallender Körper in einem Palast, während in einem anderen Kardinäle und Philosophen sich mit dem Schicksal der menschlichen Seele befassen. Wie anders sieht die Verbindung von Wissenschaft und Gesellschaft heutzutage aus! Denken Sie an jene Gruppe von Patienten, die in Frankreich einen Verein gegen Muskeldystrophien (AFM) gegründet haben, der rund 150 Millionen Mark durch Spenden über eine Fernsehshow aufgetrieben hat. Weil die Krankheit, die die Behinderung hervorruft, genetischen Ursprungs ist, hat der AFM 15 Jahre lang in die Molekularbiologie investiert. Das Geld wurde dazu verwendet, eine neue Methode der Chromosomkartographierung zu entwickeln. Als dies erreicht war, haben sie die hierfür notwendigen Labors aufgelöst. Alle ihre Bemühungen waren nun darauf gerichtet, eine Gentherapie zu entwickeln.
Es ist jenes Gebäude in Ivry, südlich von Paris, wo der AFM seine Zentrale hat, das die Grenzen jener Metapher veranschaulicht, die die Wissenschaft von einer außen vor bleibenden Gesellschaft trennen möchte: Im ersten Stock Patienten in Rollstühlen, im nächsten Labors, im dritten Verwaltung. Wo ist die Wissenschaft? Wo die Gesellschaft? Sie sind nun soweit ineinander verwoben, daß sie nicht mehr zu trennen sind. Die Patienten warten nicht länger darauf, daß die Ergebnisse der Wissenschaft auf sie herunterrieseln. Sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Sie haben sich eine Wissenschaftspolitik geschneidert, die dem angepaßt ist, was sie als ihr Bedürfnis wahrnehmen. Weit davon entfernt, Gewißheit von der Wissenschaft zu erwarten, haben sie akzeptiert, daß sie auch das Risiko der Forschung teilen müssen.
Wie beschreibt man am besten diesen „New Deal“ zwischen Forschung und Gesellschaft? Die Vorstellung eines „kollektiven Experiments“ könnte geeignet sein, diesen neuen Geist der Zeit zu bezeichnen. Vor 150 Jahren zweifelte der Wissenschaftler nicht daran, daß die Wissenschaft, Stück für Stück, die meisten Übel der Gesellschaft beseitigen würde. Der Fortschritt der Wissenschaft wurde als das Zurückweichen von Armut, Aberglauben und anderer menschlicher Torheiten gesehen. Dieses Verlangen nach Modernität, die jugendliche Inbrunst, mit der Menschen die Sache der Wissenschaft betrieben, war auf diese absolute Gewißheit zurückzuführen. Es wäre nutzlos, die Distanz, die uns von unseren Vorfahren trennt, minimieren zu wollen. Wie anders sehen die Dinge eineinhalb Jahrhunderte später aus! Wer glaubt noch an jene reine Berufung der Wissenschaft?
Die Transformation der Gesellschaft durch Wissenschaft hat viele wunderbare Ruinen hervorgebracht, aber keine bessere Gesellschaft. Wir sollten jedoch die gähnende Lücke zwischen Erwartung und Erfüllung nicht falsch interpretieren. Es gibt viele Leute, die behaupten, daß Übel statt des erwarteten Segens hervorgebracht wurden und daß der Pfeil der Zeit nicht länger in Richtung Fortschritt schnellt. Vielmehr ähnle er einem Teller Spaghetti denn einem geradlinigen Weg in das nächste Jahrhundert. Wissenschaft soll bloßgestellt und entlarvt werden als eine der vielen Illusionen, die durch dieses zersetzendste aller Jahrhunderte zerstört wurden. Meine Interpretation ist eine völlig andere. Wissenschaft mag zwar tot sein, aber es lebe die Forschung! Ich glaube, der Pfeil der Zeit existiert, aber er unterscheidet die Vergangenheit von der Zukunft auf eine neue Weise.
In der Vergangenheit waren die Dinge und die Menschen ineinander verwoben; in der Zukunft werden sie sogar noch mehr ineinander verwoben sein als je zuvor! Zum Beispiel glaubt niemand, daß die ökologischen Kontroversen sich so weit verflüchtigen werden, daß wir uns nicht mehr länger um die Umwelt kümmern müssen. Aktivisten, Wissenschaftler und Politiker erwarten von der Wissenschaft nicht, daß sie die Komplexität ihres Lebens reduziert. Sie erwarten im Gegenteil, daß die Forschung die Zahl der Gegenstände, mit denen sie sich alle beschäftigen müssen, vervielfacht. An diesem Punkt entfaltet die Vorstellung eines „kollektiven Experiments“ seine volle Bedeutung. Europa lebt seit mehreren Jahren im Schatten des sogenannten Rinderwahns. Man erwartet sich einen Fortschritt in allen wissenschaftlichen Fragen, die mit Epidemiologie, tierärztlicher Überwachung, dem Aufspüren von Fleisch und Handelsgesetzgebung zu tun haben. Aber niemand glaubt, daß sich der Kern wissenschaftlicher Fakten vom gesellschaftlichen Umfeld der Ideologien, Geschmäcker und Werte jemals trennen läßt. Im Gegenteil: Jeder rechnet mit unerwarteten Folgen, was immer auch in jenem komplexen Netz von Fleisch, Ministern, Knochen, Proteinen, Viren und Rindfleischkonsumenten geschehen mag! Das ist es, was sich am meisten geändert hat. Die Wissenschaft ist nicht mehr dazu da, in einer chaotischen Gesellschaft Ordnung zu stiften und ihre Auseinandersetzungen zu beenden. Wissenschaft wirkt in die Gesellschaft, aber um neue, unsichere Zutaten zu all den anderen Ingredienzen hinzuzufügen, die dieses kollektive Experiment ausmachen.
Rückblickend verstehen wir, daß die Definition von Gesellschaft, die bisher als Folie für Wissenschaft benutzt wurde, von Anfang an irreführend war. Das Adjektiv „sozial“ wurde dazu benutzt, den Anspruch der Wissenschaft auf Wahrheit und Gewißheit zu schwächen. Und zu sagen, daß Wissenschaft sozial konstruiert ist, wird von Wissenschaftlern für falsch gehalten. Dieses Tauziehen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, wo einer das gewinnt, was der andere verliert, ist nicht länger das einzige Spiel in der Stadt. Es gibt jetzt eine Alternative. Der alte Slogan der Wissenschaft – je mehr eine Disziplin von der Gesellschaft entfernt ist, desto besser – hallt nun als eine realistischere Aufforderung zum Handeln zurück: Je mehr eine wissenschaftliche Disziplin verwoben ist, desto besser. Das könnte bedeuten, daß wir unsere Epistemologie ändern, unsere politischen Institutionen anpassen und unsere Definition von Sozialwissenschaften untergraben müssen. Wenn wir Galileis in seiner Zelle gemurmeltes „Und sie bewegt sich doch!“ vergleichen mit jenem Treffen in Kyoto, wo Staatsoberhäupter, Lobbyisten und Wissenschaftler in einem Palast versammelt waren, um über die Erde und Umweltfragen zu diskutieren, dann können wir den Unterschied zwischen Wissenschaft und Forschung ermessen.
Wissenschaftler haben jetzt die Wahl, das Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts aufrechtzuerhalten oder ein Forschungsideal auszuarbeiten, das besser an dieses kollektive Experiment angepaßt ist, auf das wir uns alle eingelassen haben. Übersetzung: Oliver Hochadel
Bruno Latour lehrt Wissenschaftssoziologie an der Ecole des mines in Paris und ist Gastprofessor an der London School of Economics. Im Fischer Taschenbuchverlag ist von Bruno Latour soeben erschienen: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie.
Der vorliegende Text ist entnommen aus „Science“, vol. 280. q1998 American Association for the Advancement of Science, die 1998 ihr 150jähriges Jubiläum feierte. Die leicht gekürzte Übersetzung ist weder eine offizielle deutsche Übersetzung durch Mitarbeiter von „Science“, noch ist sie von „Science“ geprüft worden. Vielmehr handelt es sich dabei in vollem Umfang um eine Übersetzung im Auftrag der taz. Bei Unklarheiten ist die englische Originalversion in „Science“ heranzuziehen.
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