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Patchwork am Heiligabend

■ Verzwickte Familienverhältnisse führen zu umständlichen Weihnachtsfeiern

Vielleicht wird Schnee liegen auf den Höhen des Odenwaldes. Am Heiligabend werden Maria und Josef * wandern. Wenn sie Hunger bekommen, werden sie an die Türen der Gasthäuser klopfen. Vielleicht vergebens. Ob es ein Stall sein wird, in dem sie übernachten müssen? Eine Krippe brauchen sie nicht. Maria trägt keine Frucht unter ihrem Herzen, aus dem Alter ist sie heraus. Die Früchte ihres Leibes sind nämlich schon ziemlich groß. So groß, daß sie dieses Jahr zum allerersten Mal Heiligabend nicht bei ihrer Mutter feiern, sondern bei Walter, Marias geschiedenem Mann. Statt daheim zu sitzen und zu weinen, stapft Maria in diesem Jahr lieber mit ihrem Geliebten durch den Schnee des Odenwaldes.

Es gibt kein Entrinnen. Unerbittlich stellt sich vor Weihnachten allen Marias und Josefs und natürlich auch ihren Früchten und Früchtchen die Weihnachtsfrage: „Wo bist du Heiligabend?“ Wohl dem, der ohne Zögern antworten kann: „Zuhause, bei der Familie.“ Denn selbst den gottfernsten Kopfmenschen erwischt es kalt, wenn er auf die Frage „Was ist deine Familie?“ keine schnelle Antwort weiß. Die Leute aber, die man mit der Frage nach ihrer Familie in Verlegenheit bringen kann, werden immer mehr. Die Zahl der „Trennungsväter“ in Deutschland ist siebenstellig. Jede dritte Ehe bricht. Wer heute geboren wird, dessen Chance ist besser als je zuvor (und sogar besser als fifty-fifty), daß er als Jugendlicher in einer anderen Familie leben wird als in der, in die er hineingeboren wurde. „Patchwork-Familie“ lautet das Wort für den Trend. Das klingt lustig nach Flickenteppich. Aber wehe, wenn Weihnachten naht.

Bei Maria kam alles so: Sie hatte eine kleine Tochter von irgendeinem Klaus. Da lernte sie Walter kennen, einen Bänkelsänger und Herzensbrecher vor dem Herrn, so daß bald zwei weitere Kinder am Tisch der Maria saßen. Allerdings saß später auch ein Kind am Tisch einer anderen, Renate. Doch nach der Scheidung von Maria heiratete Walter Paula. Paula hatte auch schon zwei Kinder. Heute lebt Walter mit Verena zusammen, die – gewiß doch – auch ein Kind mitbringt. Vier Frauen. Sieben Kinder. Preisfrage: Was ist Walters Familie?

Verzwickte Patchwork-Verhältnisse führen zu umständlichen Weihnachtsfeiern. Einmal sah der Heiligabend bei Walter und Maria so aus: Walter feiert mit der eigentlichen Familie. Tannenbaum, Lukas-Evangelium, klingeling, Bescherung, die Großen trinken Wein, umarmen, Festessen. Dann guckte Walter immer offensichtlicher auf die Uhr. Maria fing an zu schreien, die Kinder weinten, Walter raste mit Höchstgeschwindigkeit zur neuen Familie. Paula war sauer, die Kinder quengelten, der Braten war angebrannt. Tannenbaum, klingeling, Bescherung. Schrecklich. Aber gerecht.

Sie bringen sich um für das ordnungsgemäße Weihnachtsritual ihrer Kinder. Es gibt Eltern, die sich seit Jahrzehnten nichts mehr zu sagen haben und seit Jahren getrennt leben, sich aber unterm Christbaum treffen – den Kindern zuliebe. Weihnachten ist das Fest für die Kinder. Kind bleibt man allerdings, bis man selber Mann oder Frau und Kinder hat. Solange feiern auch unabhängige Geister, rebellische Köpfe und Großmäuler Heiligabend meist bei den Eltern. Nadja ist vor einigen Monaten Bruno verfallen, einem Teilzeit-Vater. Sein kleiner Robbie wohnt meist bei Christine, der Ex. Die Ex haßt ihre Nachfolgerin, das ist klar. Robbie am Wochenende bei Nadja: schlimm genug, aber vertraglich geregelt. Jedoch Robbie Heiligabend in der Neufamilie – niemals! Christine fährt mit Robbie über „die Tage“ zur Schwester.

Normalerweise wäre Christine zu den Eltern gefahren, denn eine Mutter mit Kind ist eher keine Familie, die Mutter also wieder Kind ihrer Eltern. Aber Christines Eltern sind tot. Zurück bleiben Bruno und Nadja. Dumme Leute würden jetzt denken: Prima! Feiern Nadja und Bruno ungestört ein rauschendes Fest der Liebe! Nichts da! Nadja ist – fast dreißig, aber kinderlos –an Heiligabend ein Kind und gehört nach Hause, zur Familie. Bruno versucht seinen Kummer – Heiligabend ohne Robbie – bei seiner Familie zu vergessen, was jetzt wieder Vater, Mutter und Schwester sind. Das ist nicht ganz einfach, weil es diese Familie nicht mehr gibt: Der Vater hat eine Neue, die Mutter einen Neuen, die Schwester keinen mehr, aber ein Kind. So geht es zu heute, und Bruno muß sich entscheiden.

Die Verhältnisse sind so verzwickt, weil nichts funktioniert, was zunächst leicht und logisch klingt. Piet glaubte, nachdem er Elise und die drei Kinder verlassen hatte und seine Helena ihm ein Kind geboren hatte, daß eine neue Familie entstünde. Eben Helena und er und vier Kinder immer dann, wenn die Kinder aus seiner Altfamilie bei ihm waren. Doch Helena war dauernd überfordert und strapaziert und sauer wegen der ewigen Erinnerung an die „eigentliche Familie“ und daß sie zweite Wahl war.

Also mußten rigorose Schnitte her, und so kommt es, daß Heiligabend die neue Familie unter sich ist und Elise mit den Kindern allein. Elise findet das nicht so schlimm, nur einmal hat sie am Heilgabend laut „Scheiße“ geschrien, weil alle Kinder technisches Spielzeug bekommen hatten, aber nichts funktionierte, also Piet fehlte. Vielleicht kommt übrigens Heinz von nebenan vorbei. Dessen zwei Kinder dürfen immer ganz autonom entscheiden, wo sie gerade wohnen wollen: bei Papa oder seiner Ex. So könnte es kommen, daß Heinz von nebenan plötzlich allein dasitzt, am 24.. Da könnte er auch einfach rüberkommen zu Elise, das klingt doch leicht und logisch.

Doch, es gibt auch sie: die abgeklärten, erwachsenen Verhältnisse beim „zweiten Glück“. Fälle, bei denen nicht einmal Heiligabend ein Problem ist. Vielleicht muß man ja Spätgebärende sein und beim Spätzeuger die Altehe lang zurückliegen. Wie bei Sabine und Günther. „Wir verstehen uns gut“, sagt Sabine über Karla, Günthers Verflossene, „und wir wären sogar befreundet. Wenn das nicht zu albern wäre.“ Karla mit ihren beiden Großen, Sabine und Günther mit dem Baby – in diesem Jahr feiern sie erstmals alle zusammen. Gar kein Problem! Dieses Jahr bei der Altfamilie, nächstes Jahr bei der Neufamilie, alles prima, alles schön, Heiligabend in trockenen Tüchern.

Doch halt! Einen Haken hat die Sache: Bei Karla gibt es keinen Gänsebraten mit Klößen. Ein solcher Heiligabend aber ist für Sabine völlig und ASOLUT UNDENKBAR. Und hier muß einmal zum Trost für alle Bruchfamilien, Trennungsväter und –mütter, Mingles (“mixed singles“), Scheidungskinder, Stiefmütter und Mitglieder von Flickenteppichen gesagt werden: Heiligabend ist schon für sich genommen und also auch für stinknormale vollständige Kleinfamilien ein Tag, der erst einmal bewältigt sein will. Denken wir nur an Familien, in denen der eine Partner sich an Kerzenschein, Tannengrün, trautem Liedgut und aufwendig verpackten Geschenken erfreuen möchte. Während der andere als Nachweis von hochgradigem Konsumekel und aktiver Profanisierung ein paar unverpackte Kleinigkeiten auf den Gabentisch knallt. Und sich dann vor die Glotze hockt.

Was im übrigen glatt ein Trennungsgrund wäre. BuS

* alle Namen geändert

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