Die selbstbewußte Popnation

Im deutschen Pop wurden 1998 schwere Themenpakete wie Tradition, Kultur und Ethnizität publikumsgerecht und mehrheitsfähig neu verpackt. Die Erfolgsmodelle hießen German Gothic, Schlager-Revival, deutscher Soul und Multikulti-Tabaluga. Ein Jahresrückblick  ■ von Daniel Bax

Schöne Bescherung. Die Toten Hosen singen Weihnachtslieder – so mußte das Popjahr, das ganz im Zeichen des Traditionsrecyclings stand, ja ausklingen. Auffällig oft wurde 1998 auf Altbekanntes zurückgegriffen, um im deutschen Pop neue Akzente zu setzen. Und beiläufig verwischten die Grenzen zwischen ironischer Intention und echter Volkstümlichkeit. Zielsicher besetzten die Toten Hosen eine der letzten freien Positionen des deutschen Popgeschäfts. „Stille Nacht“ als Sauflied – da freut sich Hosen- Leader Campino über die vermeintliche Subversion, und der metaphorische Mantafahrer über den Ballermannspaß. Indem sie das Weihnachtsfest, natürlich „in seiner ganzen Widersprüchlichkeit“ (Campino) abfeierten, zeigten sich die rheinischen Punkrock- Populisten, die schon zu den deutschen Grundtugenden Fußball und Karneval ein betont unverkrampftes Verhältnis pflegen, einmal mehr als kulturkonservative Neotraditionalisten.

Nicht zu vergessen: Es waren ebenfalls die Toten Hosen, die, als „Rote Rosen“ verkleidet, den Weg ebneten für das, was 1998 als Guildomania in die deutsche Popgeschichte eingehen sollte. Was vor zwölf Jahren als ironisch-bierselige Interpretation deutschen Schlagerwesens seinen Anfang nahm, endete im vergangenen Frühjahr als deutscher Beitrag auf der Bühne des Grand Prix d'Eurovision in Birmingham. Aus einer Episode in der Hosen-Historie wurde ein Trend, der zum herausragenden Ereignis des zu Ende gehenden Jahres geriet: das seltsame Schlager-Revival. War es auch, rückblickend, vor allem ein vordergründiges Medienereignis, so hat Guildo Horns Kreuzzug der Liebe doch mehr nationale Begeisterung entfacht als, sagen wir einmal, das Abschneiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-WM in Frankreich. Gegen Guildo Horn hatte Berti Vogts keine Chance.

Guildo Horn gelang die Wiedervereinigung des Disparaten. Indem er sich beim altbackenen Schlagerkitsch der Konservativen wie auch beim verschwitzten Authentizitätsgestus der Sozialdemokratie und dem postalternativen Selbstverwirklichungsjargon bediente, versöhnte er den Geschmack der Großelterngeneration mit dem Humor der 68er und ihrer Kinder – eine bemerkenswerte Integrationsleistung. Zugleich kokettierte er dabei mit dem klassischen Stereotyp des „häßlichen Deutschen“.

Letzteres gilt auch für Joachim Witt, wenn auch in anderer Form. Vampirgleich entstieg der ehemalige „Goldene Reiter“ der Neuen Deutschen Welle in diesem Jahr der sprichwörtlichen Gruft. Auferstanden in seltsamem Gewand, als geisterhafter Schimmelreiter der neuen deutschen Düsternis, fledderte Witt, den Spuren der Rammsteine folgend, das Zitatkästchen der deutschen Romantik: Nihilismus und Nietzsche, Blutsonne und Venusmond, Seelenschmerz und Sehnsucht nach Höherem. Mit dunkel grollendem R dürstete es ihn nach „Stahlgewittern wie aus Eisen“ und „Fackeln im Sturm“, was jedoch lediglich einen mittelgroßen Sturm im deutschen Musikfeuilleton entfachte.

Erstaunlicherweise aber traf Witt den Nerv eines breiten Publikums. Mit dem bedeutungsschwer dräuenden Album „Bayreuth“, mehr noch aber mit dem apokalyptischen Erweckungsduett „Die Flut“, begleitet vom Wolfsheim- Sänger Peter Heppner, setzte er sich an die Spitze der Charts. Offenbar ist, so kurz vor dem Millenium, die Sehnsucht nach dem morbiden Mystizismus der deutschen Romantik weit verbreitet. Ein typisch deutsches Phänomen? Im Interview mit der taz-ruhr deutete Witt seinen Sturm und Drang zum German Gothic als zwangsläufiges Ergebnis seiner Identitätssuche: „Du wirst keinen Franzosen, Italiener und Spanier, nie jemanden sehen, der seine Mentalität verleugnet. Es ist nicht mein Weg, dieses verlogene Leugnen, dieses Weg-von-der-eigenen-Mentalität, alles andere ist gut, nur das Eigene nicht. Ich gehöre der Nachkriegsgeneration an und finde, daß man mit diesen Dingen mal sehr differenziert aufräumt.“

Die guten und die bösen Deutschen

Bei Außenstehenden führte solch ethnokulturelle Selbstvergewisserung freilich zu Irritationen. Weil Witt im Video zum Stück „Die Flut“ als finsterer Kommandant einer soldatischen Truppe auftrat, die sich durch panische Menschenmassen auf ein Schiff kämpft, wollte MTV das Stück nicht spielen: Nazi-Assoziationen lagen zu nah. Und daß die Gruppe Rammstein ihren Videoclip zum Song „Stripped“ mit Bildern aus Leni Riefenstahls Olympia-Film illustrierte, fanden britische Musiker wie Goldie und die Asian Dub Foundation gar nicht witzig. Die Musiker, bei der gleichen Plattenfirma unter Vertrag wie die Ostberliner Pyromanen, konnten aber beschwichtigt werden – alles nur ein Mißverständnis. Ob man das in Rostock- Lichtenhagen auch so versteht?

Spiegelbildlich zu Joachim Witt verortete sich 1998 Peter Maffay. Statt sich als böser Teutone vom Rest der Welt abzugrenzen, zeigte er sich als guter Deutscher, der anderen Völkern vorbildlich die Hände reicht. Wie einst Paul Simon oder David Byrne versuchte er sich dazu in Weltmusik, mit einem kleinen Unterschied: Wo erstere immerhin noch nach Südamerika oder Afrika pilgern mußten, um mit lokalen Musikern zusammenzutreffen, genügte Maffay der Gang in den nächsten Plattenladen. Dort griff er sich einen Stapel CDs, und was ihm gefiel, das buchte er für sein Projekt „Begegnungen“. Die Auswahl erfolgte streng nach Klischee: Jeder Kontinent sollte vertreten sein, musikalisch aber möglichst alles gleich klingen. So geriet Maffay an die australische Aborigenes-Gruppe Yothu Yindi, deren öder Breitwandrock sich in nichts von dem anderer Rockbands unterscheidet, oder an den in Paris lebenden Sänger Lokua Kanza, dessen Songs ungefähr so afrikanisch klingen wie Maffay selbst.

Gutmütiger Gulliver unter Ethno-Zwergen

Was Maffays inszenierte „Begegnungen“ wirklich ärgerlich machte, das war die großspurige Geste, mit der Unterschiede zwischen Musikern überbrückt wurden, deren vorgebliche Fremdheit bloß behauptet wurde. In Maffays hallenfüllender „Begegnungen“-Revue, eine der größten Tourneen des Jahres, mußte die Jüdin Noa, in den USA aufgewachsen, als Repräsentantin ihrer Wahlheimat Israel herhalten, Natacha Atlas aus London Ägypten vertreten und die Cartel-Rapper aus Deutschland das Land ihrer Eltern, die Türkei. Im Zentrum des Geschehens Maffay selbst, eine Art gutmütiger Gulliver unter Ethno-Zwergen, als Abbild eines unreflektierten Eurozentrismus. Die Kritiker jedoch war einhellig begeistert von Maffays kitschig-plakativem Multikulti-Tabaluga für Erwachsene – was verdeutlicht, daß die deutsche Einwanderungsdebatte noch immer auf Kindergartenniveau dümpelt. Maffay zeigte: Mehrheitsfähig ist ein naiver Multikulturalismus, der sich in der Exotisierung der anderen erschöpft, der kulturelle Unterschiede sieht, wo keine sind, und der deswegen mit wirklichen Differenzen nicht umgehen kann.

Ein Lichtblick in der deutschen Poplandschaft war, so gesehen, Xavier Naidoo. Statt einen auf Äußerlichkeiten fixierten Folklorismus zu bedienen, sorgte er, auf altbundesrepublikanische Kontinuität aufbauend, für eine neue Symbiose. Als erster Sänger, der Soul und R'n'B in deutsche Sprache packte, verkörpert er das Erbe der Amerikanisierung, mit ihren GI- Discos und ihrer multiethnischen Normalität. Im Unterschied zu Maffay führte Naidoo tatsächlich Welten zusammen und fügte harmonisch, was zuvor weit entfernt schien: Grönemeyer und Soul, Liedermacherinnerlichkeit und HipHop-Coolness, Mannheim und Pop.

In seinem Selbstverständnis wirkt Xavier Naidoo wie ein Nachlaßverwalter der alten Bundesrepublik, eben deswegen vielleicht nicht ganz „von dieser Welt“. Dafür plagen ihn auch keine Probleme mit der Identitätsfindung; ihm geht jene gequälte Selbstverortung, jenes larmoyante Leiden am eigenen Deutschsein völlig ab, das viele seiner Kollegen latent kennzeichnet. Aus Naidoos Interviews spricht nicht nur Lokalpatriotismus, sondern ein fast völlig ungebrochenes Verhältnis zur heimischen Scholle. Man habe doch einiges zu bieten in der Bundesrepublik, da müsse man sich doch nicht länger verstecken im internationalen Vergleich, man sei schließlich wer, konnte man ihn mehr als einmal auf Viva verkünden hören. Worte wie von Dieter Gorny.

Ist das der kommende Sound der „Berliner Republik“? Xavier Naidoo jedenfalls bietet sich förmlich an als idealer Repräsentant eines postethnischen Nationalbewußtseins, ganz nach dem Geschmack seines medialen Ziehvaters. „Da ist eine Generation, die selbstbewußt mitredet“, stellte Viva-Chef Gorny zufrieden fest, und bemühte dafür im Gespräch mit dem Zeit-Magazin einen in diesem Jahr häufig verwendeten Begriff: Normalität. Diese „Normalisierung“ führt Gorny nicht zuletzt auf Viva zurück: „Unser Erfolg hat damit zu tun, daß erstmals nach dem Krieg junge Leute nicht mehr in den Schablonen gedacht haben – international ist toll, und deutsche Popmusik ist immer schlecht, nur weil sie aus Deutschland kommt.“ So spricht der Prophet der selbstbewußten Popnation.

1998 hat Gorny recht gegeben. Pop in Deutschland hat sich ausdifferenziert, und in diesem Prozeß auch in vorhandene Traditionslinien eingebettet. Dies äußert sich in einer spezifisch deutschen Zitatpopspielart, die sich sehr unterschiedlicher lokaler Quellen bedient und konkurrierende Modelle gebiert. Im Zuge dessen werden schwere Themen wie Ethnizität, Tradition und Kultur massengerecht neu verhandelt.

Liest man die deutschen Charts als Sittenbild, als Spiegel der bundesdeutschen Befindlichkeiten am Ende der Dekade, dann scheint Popkultur auch in Deutschland kein Stoff für Generationskonflikte mehr, sondern Anlaß für neue, überraschende Allianzen und Konstellationen: herkömmliche und neue Schlagerfans, Trash- Fledderer und Traditionalisten, linke Kulturrebellen und neue Rechte. Der Kulturbruch, der einst die Generationen trennte, scheint gekittet. Statt dessen einigt man sich auf das geteilte (Pop-)Kulturerbe. Schon bemerkenswert, nach all den Kulturkämpfen der letzten Jahre. Der Eindruck drängt sich auf: Die Deutschen sind mit ihren Traditionen im reinen. Vielleicht hätte Martin Walser mit seiner Fernbedienung öfter mal zu Viva zappen sollen. Dort findet die deutsche Normalität, die er so schmerzhaft vermißt, alltäglich statt.