Lernen fürs Leben, aber nicht nur im Klassenraum

■ Wissenschaftler fordern sie, Eltern wollen sie, Bildungspolitiker hätten sie auch ganz gerne: die Ganztagsschule. Nach weitgehender Auflösung der klassischen Familienkonstellation könnte sie den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Rechnung tragen. Das ist Konsens unter den Kultusministern. Doch das kostet. Denn mit einer Aufstockung des Personals ist es nicht getan.

Den Haustürschlüssel haben sie sich meistens um den Hals gehängt, an einer Kette oder einer schmalen Kordel. Und nach Schulschluß sind sie oft die letzten, die den Klassenraum verlassen: die „Schlüsselkinder“. Bei über einem Drittel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist nachmittags niemand zu Hause, weil beide Eltern oder das alleinerziehende Elternteil berufstätig sind. „Die Folgen sind fehlende Erziehung und soziale Vereinsamung der Kinder“, faßt Erziehungswissenschaftler Heinz Günter Holtappels zusammen.

Die orientierungslosen „Schlüsselkinder“ können aufgefangen werden: etwa in Ganztagsschulen. Diese Einrichtungen bieten Mittagessen und Nachmittagsgestaltung an, je nach Konzept mit Unterricht oder Freizeitprogrammen (siehe Kasten). Und es gibt Ansprechpartner. „Außerhalb des Korsetts von Klassenzimmer und Lehrplan haben Schüler hier die Möglichkeit, die Lehrer wirklich kennenzulernen“, sagt Holtappels. Im Idealfall entstünden Vertrauensverhältnisse, und die Schule könne dann etwas von der „Nestwärme“ vermitteln, an der es Kindern überforderter Eltern oder aus zerrütteten Familien oft mangelt. Und das wird immer wichtiger.

Die klassische Mutter-Vater- Kind-Familie, die früher die soziale Prägung der nächsten Generation gewährleistete, werde sich weiter auflösen, prognostizieren Sozialwissenschaftler – nicht zuletzt, weil immer mehr Frauen arbeiten gingen. Jugendliche sind zunehmend auf sich allein gestellt, und angesichts von Problemen wie der Massenarbeitslosigkeit blicken sie in eine unsichere Zukunft. Zwar können Schulen nicht alle Probleme lösen, aber sie können ein wichtiger Baustein in der Jugendarbeit sein. Eine intensive pädagogische Betreuung könne Frustrationspotential bei den Jugendlichen abbauen und damit präventiv wirken, meint Holtappels. Und das zahle sich aus. „Natürlich sind Ganztagsschulen teurer als andere, aber es ist so immer noch billiger, als wenn man nachher für Therapie- oder Gefängnisplätze zahlen muß.“

„Billiger als Therapie- oder Gefängnisplätze“

Das Konzept der Ganztagsschule kann den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und Herausforderungen Rechnung tragen. Entsprechend groß ist die Nachfrage: 40 Prozent der Eltern wünschen sich mehr Ganztagsschul- Angebote, haben die Forscher Tino Bargel und Manfred Kuthe herausgefunden. Trotzdem gibt es nicht genügend solcher Schulen. Am Willen der Politiker liegt es nicht. „Wir hätten gerne mehr Ganztagsschulen“, sagt Rita Hermanns von der Berliner Senats- Schulverwaltung. „Das ist Konsens unter den Kultusministern.“

Trotzdem taucht das Thema bei den Kultusministerkonferenzen (KMK) seit Jahren nicht mehr auf. Auch in den Landtagen fordern Bildungs-, Sozial- und Jugendpolitiker parteiübergreifend mehr Ganztagsschulen. Umstritten ist die Forderung lediglich im konservativen Lager. Marion Kittelmann, schulpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, sagt, daß eine „nicht zu unterschätzende Gruppe“ ihrer Parteifreunde am Elternhaus als dem einzig maßgeblichen Ort der Erziehung festhalte – ungeachtet der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. „Da besteht noch viel Nachholbedarf.“ Und Geldmangel: „Finanziell sind deutlich mehr Ganztagsschulen nicht machbar“, sagen Bildungspolitiker und –verwalter unisono.

Der Ausbau einer herkömmlichen Halbtagsschule zu einer Ganztagsschule ist teuer. Oft müssen die Gebäude umgebaut werden: für Schulküche und –kantine, gegebenenfalls auch für mehr Gemeinschafts- und Werkräume.

„Die Jugendlichen sind bereit zu lernen“

Außerdem schlagen höhere Personalkosten zu Buche. Beispiel Berlin: In den 22 Gesamtschulen der Sekundarstufe I, in denen die Schüler auch nachmittags Unterricht haben, finanziert das Land pro Klasse fünf Lehrerwochenstunden mehr. Außerdem gibt es pro 100 Schüler eine zusätzliche Stelle für Sozialpädagogen oder Erzieher. Die 42 „offenen Gesamtschulen“ mit freiwilligem Nachmittagsangebot bekommen etwa die Hälfte dieser Leistungen.

Aber mit der Aufstockung des Personals ist es nicht getan. Mancher Lehrer fühlt sich möglicherweise überfordert. „An Ganztagsschulen geht es nicht mehr nur um Wissensvermittlung, sondern auch um sozialpädagogische Aufgaben“, sagt Wissenschaftler Holtappels. Das klassische Lehramtsstudium bereite auf solche Herausforderungen nicht vor – Weiterbildungen seien deshalb notwendig.

Da die Kultusminister erklärtermaßen nicht so viele Ganztagsschulen einrichten können, wie sie gerne würden, setzen sie auf Alternativmodelle. In Berlin und Nordrhein-Westfalen arbeiten Schulen mit freien Jugendhilfeträgern zusammen. Die Teilnahme an den Aktivitäten ist freiwillig – „aber gerade deshalb machen die Schüler gerne mit“, sagt Marit Kleczewski von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, die die Programme in Berlin ins Leben gerufen hat. Die grüne Bildungspolitikerin Sybille Volkholz pflichtet ihr bei. Das Klischee von der Null-Bock-Generation, die nur rumhänge, sei überholt. „Die Jugendlichen sind bereit, zu lernen und Verantwortung zu übernehmen.“ Nur mangele es zu oft an den Möglichkeiten dafür, kritisiert Volkholz. „Man muß die Kids nur mal machen lassen.“ Kerstin Willers