: Tausende auf der Flucht nach Europa
■ Kurz vor dem Jahreswechsel erreichen Tag für Tag Boote mit Flüchtlingen die Küsten Italiens. Die meisten Menschen kommen aus dem Kosovo und Kurdistan. Die italienischen Behörden sind hoffnungslos überfordert
Rom (AFP/taz) – Getrieben von Elend und Krieg, landen jeden Tag Hunderte von Flüchtlingen an den Küsten Süditaliens. Bis gestern morgen bestätigten die Behörden über 1.000 illegale Einreisen seit Weihnachten; gestern kamen 187 weitere hinzu. Die Flüchtlingslager in Apulien sind überfüllt. Fersehberichten zufolge warten an der Küste Albaniens Tausende auf ihre Überfahrt nach Italien.
Gutes Wetter, eine ruhige See und die erneute Eskalation des Konflikts im Kosovo werden von offizieller Seite als Gründe für die andauernde Massenflucht genannt. Allein zwischen Freitag und Sonntag landeten in Apulien 700 Menschen. „Etwa die Hälfte sind Kosovo-Albaner, die anderen Kurden aus dem Irak und der Türkei, dazu einige Albaner“, heißt es in der Polizeikaserne von Otranto. Die Albaner werden im Rahmen eines Rückführungsabkommens mit ihrem Heimatland sofort wieder abgeschoben. Die anderen bleiben. Etwa 20 Prozent der Flüchtlinge sind Kinder. Im Hafen von Otranto bekommen sie eine erste Notversorgung, bevor sie in die drei Auffanglager Apuliens weitergefahren werden.
Die Kosovo-Albaner kommen im allgemeinen über den albanischen Hafen Vlore, der von der italienischen Küste lediglich 60 Kilometer entfernt liegt. Sie reisen meist mit Schlauchbooten. Irakische Kurden berichten, sie seien auf größeren Schiffen in die Adria gereist und auf hoher See in Schlauchboote umgeladen worden. Die Überfahrt kostet derzeit etwa 1.000 Dollar pro Kopf. „Der Handel mit illegalen Einwanderern ist inzwischen profitabler als der Handel mit harten Drogen“, sagt Franco Pittau von der Caritas, die in den Flüchtlingslagern aktiv ist.
„Die Reise ist extrem gefährlich“, berichtet ein Helfer der Küstenwache der Zeitung Repubblica. „Wie Stückgut werden die Menschen mitten in der Nacht von der Besatzung der Schlauchboote ausgesetzt.“ Dann müßten sie, unterkühlt und ausgehungert, durch das eisige Wasser an Land waten. Das liegt auch daran, daß die italienische Küstenwache die Boote nicht ungehindert landen läßt. Mehrfach sind schon Flüchtlingsschiffe bei Verfolgungsjagden kollidiert oder gar gekentert. Gestern morgen kam es vor Brindisi wieder zu einer Verfolgungsjagd, bevor eine Gruppe von 27 Flüchtlingen schließlich doch das Festland erreichen konnte. Die Kapitäne des Schiffes, zwei Albaner, wurden festgenommen. Auf dem Boot wurden Drogen entdeckt.
Wegen des Ansturms haben die Behörden einige Flüchtlinge schon nach Sizilien weiterleiten müssen. „Wir haben derzeit 500 Gäste, aber unser Zentrum ist nur für 250 bis 300 Menschen vorgesehen“, sagt Don Cesare Lodeserto, Leiter des Flüchtlingslagers Regina Pacis de San Foca, das an der Küste, etwa 20 Kilometer außerhalb von Otranto, liegt. „Alle diese Leute haben politisches Asyl beantragt oder werden es noch tun. Sie müssen ein paar Tage hierbleiben, bis die Formalitäten erledigt sind.“ Die meisten Flüchtlinge bekommen unter bestimmten Bedingungen eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis, und die meisten von ihnen nutzen das, um die Weiterreise nach Deutschland, Frankreich oder in die Schweiz zu versuchen.
Die Flüchtlingslager werden von Freiwilligen betrieben. „Die Regierung gibt uns 30.000 Lire (knapp 30 Mark) pro Person und Tag“, sagt Don Cesare. „Aber wir müssen die Leute ernähren, sie ankleiden, medizinisch versorgen und ihnen eine Zugfahrkarte kaufen, damit sie weiterfahren. Wir geben etwa neun Millionen Lire pro Woche aus.“ Dafür ist er auf Spenden angewiesen, unter anderem vom Vatikan.
Die Lage ist nicht erst jetzt dramatisch geworden. Im Sommer entwickelte sich ein Streit mit Tunesien über die illegale Einwanderung aus Nordafrika zur diplomatischen Krise. Nach Angaben des italienischen Innenministeriums beantragten allein von Anfang November bis Mitte Dezember 300.000 neue Flüchtlinge eine Aufenthaltserlaubnis. In Apulien haben die Behörden in diesem Jahr mehr als 36.000 Flüchtlinge registriert – mehr als das Doppelte des Vorjahres. Etwa ein Drittel von ihnen haben Asyl beantragt.
Die italienische Regierung ist für ihre Untätigkeit angesichts der Lage vielfach kritisiert worden. Nun hat sie einen Runden Tisch mit der Regionalbehörde von Apulien zur Einwanderungspolitik angekündigt und acht Milliarden Lire (knapp acht Millionen Mark) für die Flüchtlingslager lockergemacht. „Das sind positive Zeichen, aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir seit einem Jahr eine chronische Notlage erleben“, sagt Angelo Disuma, Sekretär der Präsidentschaft der Region Apulien. „Die Apulier reagieren sehr gut, und wir haben bisher kein Problem mit Rassismus gehabt“, fährt er fort. „Aber die Lage könnte außer Kontrolle geraten. Es ist ein Problem, das ganz Italien und ganz Europa angeht.“ D.J.
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