Wer nicht zählt, hat alle Zeit der Welt

Nichts erscheint selbstverständlicher als der Blick auf die Uhr oder die Verabredung zu einem Rendezvous. Pünktlichkeit ist nach wie vor eine Frage der Höflichkeit, aber gewiß kein Problem der exakten Zeitmessung mehr. Wie aber konnten solche Termine zustande kommen, als es noch keine verbindlichen Methoden der Zeitbestimmung gab, als die Uhren noch sprichwörtlich „nach dem Mond gingen“? Und bevor der Mensch auf die irritierende Idee verfiel, das Jahr bis auf den milliardsten Teil einer Sekunde zu erechnen und die Zeit in DIN- Normen zu pressen? Eine Kalendergeschichte  ■ von Reinhard Krause

Eigentlich ist es schade: Eine richtige Fin de siècle-Stimmung, wie man sie von der letzten Jahrhundertwende kennt und in ästhetischer Hinsicht ja durchaus auch schätzt, will sich diesmal so recht nicht einstellen. Keine Jahrtausendhysterie, keine dekadenten Weltuntergangsszenarien, nicht einmal ein wenig Wehmut über den schleichenden Ausklang des 20. Jahrhunderts.

Es scheint, als hätten die Deutschen ihre Lust an miterlebten Epochenschwellen mit der Wiedervereinigung gründlich gesättigt. Die Einführung des Euro läßt sie gleichgültig wie ein Osterspaziergang; was soll da der Anbruch des dritten Jahrtausends neuer Zeitrechnung schon für Sensationen bringen?

Ein wenig verwundern müssen vor diesem Hintergrund Meldungen aus der sonst so bedächtigen Schweiz. Genf, die Weltkapitale der Zeitmessung mit ihren Qualitätserzeugnissen zwischen bestechender Präzision und reinstem Protz, möchte unbedingt die Krone der Millenniumsfeiern davontragen. Keineswegs will man es bei einer schnöden, pyrotechnisch aufgemotzten Party am Silvesterabend 1999 bewenden lassen oder mit einem bombastisch leeren Millenniumsdom wie in London angeben. Nein, die Uhrenstadt verteilt ihre Aktionen und Aktiönchen über das ganze Jahr. Jeden Tag ein neuer kleiner Abschied von diesem Jahrtausend. Vielleicht doch eine Flucht nach vorn aus Angst vor dem Neuen, Ungewissen? Da paßt es gut ins Bild, daß als Höhepunkt schon Silvester 1998 eine riesige Sanduhr aufgestellt wurde, die genau zur Jahrtausendwende abgelaufen sein soll.

Ein Rückgriff auf die Vorsintflut. Denn immerhin gibt es längst Atomuhren, die den Ablauf eines Jahres bis auf die Nanosekunde messen, den milliardsten Teil einer Sekunde. Ein wahrer Segen für all jene mathematisch Interessierten, die mit der immer noch etwas ungenauen Gepflogenheit Probleme haben, alle drei Jahre zwei Schaltsekunden einzufügen, um das leider unstete Kreisen der Erde um die Sonne annähernd auszugleichen. Wie wunderbar unpräzise mutet da das Rieseln von Sandkörnern durch eine Glasröhre an!

Die Techniken der Zeitmessung haben mithin längst einen Stand erreicht, der für den menschlichen Durchschnittsalltag keine Relevanz mehr besitzt. Welch ein Unterschied zu den Zeiten, als die Menschen zum ersten Mal bemerkten, daß es unterschiedliche, aber stets wiederkehrende Jahreszeiten gibt, die vom Stand der Sonne abhängig sind. Daß nachts der Mond immer anders aussieht und auch er einem rätselhaften Rhythmus folgt.

Mögen in den ersten Zeiten der Menschheitsgeschichte auch chaotische Zustände geherrscht haben, einzig geordnet von Intuition und zufälligen Erkenntnissen, so muß sich doch irgendwann das Bedürfnis nach Absprache und einer gewissen Verbindlichkeit im Miteinander entwickelt haben. Wie teilte man damals einem Tauschpartner etwa dies mit: „Wir treffen uns am dritten Freitag im Monat Mai bei der Flußmündung.“ Schwierig.

Archaische Knochenfunde geben Aufschluß über die ersten Versuche zur Zeitmessung. Es dauerte eine Weile, bis sich Anthropologen und Archäologen einen Reim auf die mit merkwürdigen Kerben versehenen Tierknochen machen konnten, die sie in verschiedenen Teilen der Welt fanden. Für eine rituelle oder dekorative Deutung lagen die Funde zu weit auseinander und waren sich zu ähnlich.

Die Lösung mußte praktischerer Natur sein. Die auffallende Häufung von Sechser-, Siebener- und Achterreihen brachte schließlich Licht ins Dunkel: Anhand dieser Markierungen hatten die urzeitlichen Menschen des Mesolithikums den Stand des Mondes notiert. Durch einen um den Knochen gewickelten und mit Knoten versehenen Faden, so die Vermutung, konnte der Steinzeitkalender stets aktualisiert werden. Weihte man seine Geschäftspartner in die Kunst der Benutzung ein, war die Grundlage für mittel- oder gar langfristige Verabredungen geschaffen.

Blöd nur, wenn man vergessen hatte, seine Knochenuhr auf aktuellen Stand zu bringen, und sich tagsüber nicht mehr an den Stand des Mondes erinnern konnte. Schusseligkeit führte wohl schon damals zu zwischenmenschlichen Verwerfungen.

Indes sollte es noch ein paar Jahrtausende dauern, bis den Menschen auffiel, daß Mondzeit und Sonnenzeit im Grunde überhaupt nicht zueinander passen. So viele Kulturen, so viele Kalendersysteme. Es entstand ein solches Kuddelmuddel an Auffassungen vom Jahresbegriff, daß erst in jüngerer Zeit das mutmaßliche und enttäuschend menschliche Alter der biblischen Gestalten eruiert werden konnte.

Methusalems gesegnetes Alter von 969 Jahren basierte vermutlich auf einem Ein- Mond-Jahr – folglich wurde er 969 Monde alt: 78 Jahre. Und zu Abrahams Zeit war ein Fünf-Monde-Jahr gebräuchlich, was seine immerhin auch noch stolzen 175 Jahre auf 72 Lenze zusammenschnurren läßt. Wie gewöhnlich für uns Heutige!

Die Ägypter ließen als erste den Mond Mond sein und orientierten sich an der Sonne. Schon sie wußten, daß ein Sonnenumlauf cirka 365,25 Tage dauert, daß also der Kalender alle vier Jahre um einen Schalttag ergänzt werden mußte, wollte man nicht in Kauf nehmen, den Frühlingsbeginn nach einiger Zeit im Herbst zu feiern. Julius Cäsar war der erste Abendländer mit Einfluß, der sich von diesem System überzeugen ließ. Kurzerhand beschloß er die Einführung des nach ihm benannten julianischen Kalenders.

Obwohl Cäsar auf die Erhaltung bestehender römischer Festtage – die Kalenden, Nonen und Iden – bemerkenswerte Sorgfalt verwendete, geriet der bisherige Kalender doch so weit in Unordnung, daß das Jahr der Umstellung, 46 v.Chr., aus fünfzehn Monaten und sage und schreibe 445 Tagen bestand.

Etwas verstört, wenn nicht gar beleidigt, sprachen lateinische Chronisten fortan vom annus confusionis, dem Jahr der Verwirrung. Die nächste gravierende Umstellung erfolgte gut fünfhundert Jahre später, als sich das Christentum in Europa so weit durchgesetzt hatte, daß die Einführung einer neuen Zeitrechnung angezeigt schien.

Startpunkt der neuen Zählung sollte naheliegenderweise das Geburtsjahr des Heilands sein. Also wurde gerechnet und recherchiert, bis man schließlich zu dem Ergebnis kam, man befinde sich im Jahr 532 nach Christi Geburt.

Diese Zählung gilt bis heute. Allerdings stellte man nach weiteren gut tausend Jahren mit einiger Zerknirschung fest, daß das julianische System weiterhin für Verschiebungen sorgte. Allmählich wurde es auffällig, daß der Zeitpunkt der Tagundnachtgleiche um zehn Tage vom kalendarischen Frühlingsbeginn abwich. Schuld daran war der Umstand, daß das Jahr nicht 365,25 Tage dauert, sondern 365,2442 Tage – also elf Minuten und vierzehn Sekunden weniger.

Inzwischen hatte sich herumgesprochen, daß die Erde keine Scheibe, sondern eine um die Sonne kreisende Kugel ist. Warum nicht auch gleich zugeben, daß der bisherige Kalender noch nicht vollends ausgereift war? Im Jahre des Herrn 1582 ermannte sich Papst Gregor XIII. und beschloß die gregorianische Zeitrechnung.

Um die tausendfach angehäuften elf Minuten auszugleichen, wurden die Tage vom 4. bis zum 15. Oktober 1582 ersatzlos gestrichen. Die darüber hinausgehenden Veränderungen machten sich weniger direkt bemerkbar. Weiterhin galt die Regelung, daß jedes Jahr, dessen Zahl sich ohne Rest durch vier teilen ließ, ein Schaltjahr war. Neu war hingegen die Bestimmung, daß Jahre, die durch vierhundert teilbar sind, nicht als Schaltjahre gelten. So ging es besser.

Für Irritation sorgte irgendwann die Frage, ob die christliche Zeitrechnung mit einem Jahr Null beginnt oder gleich mit dem Jahr 1. Tatsächlich wäre die Vorstellung eines Jahres Null bei Einführung der neuen Zeitrechnung als Idee des Teufels erschienen. Auf das Jahr 1 v.Chr. folgte also unmittelbar das Jahr 1 n.Chr. Bei Anbruch des Jahres 2 lag also rein rechnerisch Jesus' Geburt erst ein Jahr zurück – sein zweitausendster Geburtstag fiele somit eigentlich auf den 1. Januar 2001.

Sollte man also die Millenniumsfeier verschieben? I wo, mit wachsendem astronomischem Wissen kamen Wissenschaftler schließlich darauf, daß Jesus an einem Freitag, nämlich am 27. April 28, gestorben sein dürfte und auch an einem Freitag geboren wurde: am 1. Dezember des Jahres 7 v.Chr. Oh nein, das dritte Jahrtausend hat schon vor genau fünf Jahren und einem Tag begonnen!

Sei's drum. Ob das Jahr 2000 noch vor uns oder schon hinter uns liegt, ist wurst. Die Moderne ist so oder so – und trotz aller zeitersparenden Erfindungen – das Zeitalter nie endender Jeremiaden über stets zu knappe Zeit. „Time Waits For No One“, gründelten die Rolling Stones schon in jungen Jahren, und Barry Ryan wußte es noch dunkler zu formulieren: „Zeit macht nur vor dem Teufel halt!“ Och je!

Um wieviel frischer und sympathischer wirkt da die britische Sixtiesikone Sandie Shaw, die noch im zarten Alter von 41 Jahren in einem ihrer Songs herumjubelte: „I am so young, I am so really, really young!“ Ganz zu schweigen von der bezaubernden Idee, die Filmmusik zum James-Bond- Film „On Her Majesty's Secret Service“ aus dem Jahr 1969 ausgerechnet Louis Armstrong zu überlassen. Dank der Phonoindustrie singt der nun bis ans Ende aller Tage mit hörbar altersmürber Stimme: „We Have All The Time In The World“. Zwei Jahre später war Satchmo tot.

Literatur: Hannes E. Schlag – Ein Tag zuviel. Aus der Geschichte des Kalenders, Königshausen & Neumann, Würzburg 1998, 350 S., 48 Mark

Reinhard Krause ist Redakteur im taz.mag. Auch er ist verdammt jung