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Ich sehe was, was du nicht siehst

Mona Stein liest professionell aus Karten, der Student Martin Dietrich hobbymäßig aus der Hand  ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Die Altbauwohnung ist geräumig, auf dem Tisch brennen Kerzen. Wenn Mona Stein ihre rechte Hand auf die linke Hand ihres Klienten legt und „die Verbindung herstellt“, konzentriert sie sich auf ihre innere Stimme. Als Hilfsmittel benutzt sie Karten, um in die Zukunft zu schauen. Mona Stein ist eine professionelle Wahrsagerin. Und sieht genau so aus: schwere, schwarze Haare, große Schmuckgehänge, wallende Gewänder, dick geschminkte Augen und Lippen und grün lackierte Fingernägel. Die Frau, die ihr Alter bei „irgendwo über 40“ angibt, verspricht bei den bis zu zweistündigen Sitzungen in ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg, daß ihre Prognosen, die sie im Schnitt für 250 Mark erstellt (Arbeitslose nach Vereinbarung), mit bis zu „95prozentiger Sicherheit“ eintreten.

Martin Dietrich dagegen wagt sich nicht an konkrete Dinge. „Ich habe keine mediale Begabung“, sagt der 38jährige, der im 15. Semester Psychologie studiert. Er konzentriert sich auf Persönlichkeitsanalysen und Lebenspläne. Diese erkennt er am Verlauf und der Form der Herz,- Kopf- und Lebenslinien, an der Form der Finger und den Kapillarstrukturen. Geweckt wurde seine Neugierde, als ihm mit 18 Jahren eine Wahrsagerin in Baden-Baden seinen späteren Umzug vorhersagte. Dann folgten eine Reihe von Handlesebüchern und etwa einhundert Hände, die durch seine Hände gegangen sind. Daß er die Handleserei nur nebenbei betreibt und sich mit dem zufriedengibt, was ihm die Leute geben, merkt man an der unaufgeräumten Studentenbude in Schöneberg und seiner schlabberigen Jogginghose.

Mona Stein dagegen ist eine Professionelle. Die Wahrsagerin, die stolz auf ihren italienischen Großvater ist, der ebenfalls Karten gelegt hat, beschäftigt sich seit ihrem 14. Lebensjahr mit Karten und hat „zur Sicherheit“ für ihre Klienten mehrere Crash-Diplome gemacht. Vor zu vielen Studien warnt sie allerdings. „Da geht die natürliche Intuition verloren.“

Mona Stein war die erste in der DDR zugelassene Vertreterin ihres Berufsstandes. Als der gelernten Schauspielerin 1987 angeboten wurde, in einem Kulturhaus eine Wahrsagerin zu spielen und den Leuten irgend etwas zu erzählen, weigerte sie sich. Sie trat als echte Wahrsagerin auf und las in 14 Stunden 61 Leuten aus den Karten. „Ich war schockiert“, erinnert sie sich, „alles hat gestimmt.“ Geweigert hat sie sich auch, die Fragen ihrer Klienten an das DDR-Außenministerium weiterzuleiten.

Der Anfang ihrer Wahrsagerkarriere war das Ende der Schauspielerei. Entschädigt wurde sie mit diversen Fernseh- und Radioauftritten und dem Blick in die Karten für Leute wie Gregor Gysi. Dem sagte sie Anfang 1989 eine große Karriere voraus und daß ihm die Partei immer im Wege stehen würde. Stolz ist sie auch darauf, daß sie ein Jahr vor dem Mauerfall in den Karten vieler Ausreisewilliger sah, daß sie in den nächsten zwölf Monaten ausreisen werden. „Ich habe nicht gesagt, daß die Mauer fallen wird“, stellt sie klar.

Gern glaubt man ihrer Prognose, daß das eigene neue Jahr „in jeder Beziehung sehr gut sein wird“ und in frühestens zwei Jahren mit Kindersegen zu rechnen sei. Beruhigend ist ihre Aussage, daß die Augen des Mannes auf dem mitgebrachten Foto „treu“ seien. Etwas verwunderlich klingt da der Ratschlag, ihn eine geplante Reise nicht allein machen zu lassen, weil er flirten werde. Interessant ist die Nachricht, daß es „einen Verehrer gibt, der Skorpion oder Krebs ist und ein Kollege sein könnte“. Nachdenklich stimmt die Anregung, „Ihrem Mann mehr Zärtlichkeit als bisher zu geben“: „Sie haben kleine Härten, die ihn faszinieren, aber auf Dauer sehnt er sich nach weicheren, weniger dominanten Zügen.“

Was dahinterstecken könnte, entdeckt Michael Dietrich, als er mit dem spitzen lackierten Fingernagel des rechten kleinen Fingers die verschiedenen Linien in der Handfläche nachfährt. „Die verkettete Herzlinie steht für Kompensation“, erklärt er. Das heißt: „Für die Außenwelt bist du ein Kumpel, doch innerlich bist du viel sensibler.“ Ergo: „Das Sensibelchen in dir wird überspielt.“ Nach einem Blick auf den „Neptunbereich“ in der unteren Handfläche attestiert er eine „ungeheure Empfindsamkeit“. Während Mona Stein in den Karten viel Erfreuliches für das neue Jahr gelesen hat, sieht Michael Dietrich in den Handlinien Stagnation: „Laß deine Ansprüche eher fließen.“.

So wie Martin Dietrich ist auch Mona Stein von ihren Angaben überzeugt. Angst danebenzuliegen hat sie nicht. „Nur bei einem von tausend sehe ich wenig“, sagt sie. Dieser eine von tausend könnte sie selbst sein. Denn während sie für andere Menschen mit viel Intuition die Karten legt, scheint sie bei sich selbst einen Hörfehler in Sachen innerer Stimme zu haben. „Bei mir selber bin ich befangen“, räumt sie ein. Noch heute bereut sie, vor vielen Jahren einem Traum über einen Mann, der sie schlecht behandelte, keinen Glauben geschenkt und diesen Mann geheiratet zu haben. „Hätte ich auf meine innere Stimme gehört“, sagt sie, „hätte ich mir die Ehe mit dem Alkoholiker gespart.“ In den vergangenen Jahren ist sie zweimal hintereinander auf windige Steuerberater hereingefallen. „Ich ärgere mich, die Typen verkannt zu haben“, sagt sie, „sonst sehe ich alles.“

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