: Comic-Held in der Ich-Krise
„Jagd auf Spirou“: Nach 60 Jahren geht es bei Frankreichs berühmtesten Pagen ans Eingemachte ■ Von Jens Balzer
Eines Tages mußte es zu einer Ich-Krise kommen! Seit 60 Jahren hat der Hotelpage Spirou pausenlos Comicabenteuer bestanden, aber ein bißchen verläßliche Charakteridentität hat man ihm Zeit seines Daseins verwehrt. Seine ersten Zeichner, Robert Velter und Joseph Gilain, haben ihn als schlaksigen Tolpatsch erschaffen, der in einem Hotel lustigen Unfug verzapfte. Doch schon der dritte Autor, der sich mit seinem Schicksal befaßte, baute Spirous Subjektprofil völlig um.
André Franquin schuf, ab 1946, aus dem Komiker einen tapferen Helden, der in aller Welt Verbrecherbosse und Diktatoren bekämpfte – und besonders den mad scientist Zyklotrop, der mit bizarren Apparaten die Menschheit zu versklaven gedachte. Für sein derart unstet gewordenes Leben gab es kaum eine Entschädigung. Wenigstens wurden Spirou ein Freund und zwei Haustiere beigesellt: der Reporter Fantasio, das Eichhörnchen Pip – und das gelbschwarz-gefleckte Marsupilami, das aus einem Urwald im fernen Palumbien kam. Zwar war letzteres nur mit einer eingeschränkten Artikulationsgabe begnadet (“huba-huba“), dafür konnte sein überlanger Schwanz jede beliebige Form annehmen. Besonders die Metamorphose zur stahlharten Faust half dem Helden oft aus der Patsche.
Als universal einzusetzender Abenteurer wurde Spirou – neben Hergés Tim – zur beliebtesten europäischen Comicfigur. Der individuelle Zeichenstil, in dem Franquin seine Abenteuer verfaßte – ein schwungvoller Strich ohne Schraffuren –, hat sogar schulbildend gewirkt: als „École Marcinelle“ prägt er eine Vielzahl klassischer Comicautoren, vom Asterix-Zeichner Albert Uderzo bis zum Schlümpfe-Schöpfer Peyo.
Auf diese „goldenen Jahre“ Spirous folgte freilich ein lang anhaltendes Tief. Als Franquin die Arbeit an der Serie beendete, nahm er nicht nur seine einzige Originalschöpfung, das Marsupilami, als Hauptfigur eines eigenen Comics mit. Auch seine erzählerische Eleganz sollte man fortan vermissen; Die folgenden Spirou-Zeichner wußten sie nicht zu ersetzen. Jean-Claude Fournier versuchte zehn Jahre vergeblich, sich interessante Plots auszudenken; Raul Cauvin und Nic Broca ruinierten die Serie beinah bei dem Versuch, den Hauptfiguren ihre ursprüngliche Slapstick-Gestalt rückzuerstatten.
Erst Philippe Vandevelde und Jean-Richard Geurts, die als Tome und Janry seit 1980 für die Serie verantwortlich sind, haben ihr wieder eine originelle Gestalt gegeben. Lange Zeit ließen sie Spirou und Fantasio gegen immer groteskere Bösewichte bestehen – und gewannen ihren wesentlichen Witz aus der Überzeichnung der Nebenfiguren.
In ihrem neuen Album haben sie sich nun für einen weiteren Stilwandel entschieden, der wohl der deutlichste in der Spirou-Geschichte ist. Jagd auf Spirou ist ein mangaähnlich gestalteter Action-Comic, der aller Komik entbehrt. Es geht um das Klonen von Menschen: Bei Nachforschungen in einem Genlabor wird Spirou niedergeschlagen und verliert das Gedächtnis; nachdem er wieder erwacht, muß er nicht nur vor den übelwollenden Wissenschaftlern fliehen. Auch Polizei, Armee und andere Vertreter der Staatsmacht trachten ihm nach dem Leben – aus Gründen, die man erst ganz am Ende erfährt. Doch Spirou ahnt bald, daß sie mit seiner Identität als Person zu tun haben könnten.
Für den Hamburger Carlsen-Verlag kommt dieser neuerliche Wesenswandel gelegen. Einst förderte Carlsen jene europäischen Abenteuer-Comics, die sich aus Franquins „École Marcinelle“ entwickelt haben. Neuerdings setzt man ganz auf den japanischen Cyberpunk; von dessen dynamistischem Stil ist die neue Ästhetik von Tome und Janry wesentlich beeinflußt.
Auch das Motiv der Ich-Krise, um das Jagd auf Spirou kreist, kommt aus den Mangas. Doch japanischen Comic-Autoren liegt viel daran, ihre Heldenfiguren glaubwürdig zu charakterisieren – besonders, wenn sich diese in persönlichen Ausnahmezuständen befinden. Tome und Janry täuschen hingegen das psychologische Interesse nur an, mit einigen kontemplativen Portraitansichten. Im Fortgang ihrer Geschichte begnügen sie sich meist mit der Gegenüberstellung von Gejagtem und Jägern: Es bleibt bei banalen Verfolgungen und Ballereien.
Man versteht, daß dieser Relaunch zum „erwachsenen“ Comic neue Leserkreise erschließen soll. Für den warmherzigen Witz aber, wegen dem man die Spirou-Geschichten schätzen gelernt hatte, kann die neue Mischung aus Melodram und Action kein Ersatz sein.
Tome & Janry: „Jagd auf Spirou“, Carlsen Verlag, Hamburg 1998; 44 S., DM 14,90
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen