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Friedrichstraße

Stadtmitte würde man dort nicht vermuten. „Stadtmitte“ ist nicht mehr als ein U-Bahnhof, ein Umsteigebahnhof zwischen der Linie 2, die den Alexanderplatz mit der Westberliner City verbindet, und der Linie 6 zwischen Alt-Mariendorf im Süden und Alt-Tegel im Norden. Selbst in der Friedrichstraße ist „Stadtmitte“ mehr Grenze als Zentrum. Nur wer „Stadtmitte“ in Richtung Norden verläßt, findet die Friedrichstraße, wie sie in zahlreichen neuen Hochglanzbänden abgebildet ist: mit den unterirdischen Passagen, der Andeutung von Luxus im Quartier 206 und der gläsernen Haut der Galeries Lafayette, deren Architekt Jean Nouvel einmal von der Poesie des Konsums gesprochen hat.

Folgt man der einmal eingeschlagenen Richtung nach Norden, trifft man auf eine Szenerie, die nur hartgesottene Modernisten poetisch nennen können. Es ist, wenn man so will, die Poesie der leeren Räume, eine Poesie, die in der dichten Konzentration von Büros, Läden und Menschenströmen auch ohne DDR-Beigeschmack nostalgisch wirkt. Dennoch sind die unbebauten, noch nicht „reurbanisierten“ Plätze zwischen den Linden und dem Bahnhof Friedrichstraße die einzigen Orte, an denen man sich nicht weitergetrieben fühlt, zur Seite gehen kann. Würde die schmale Straßenflucht des einstigen Boulevards über die Linden verlängert werden, hätte die Straße, wie schon so oft, eines ihrer Gesichter verloren.

Wie viele Gesichter, wie viele Poesien hat die Friedrichstraße? Ganz im Süden oder besser ganz unten, jenseits des U-Bahnhofs „Stadtmitte“, verläuft sich die Friedrichstraße im Mehringplatz. Sonst verläuft sich hierher keiner. Selbst die letzte Bank wird hier wohl bald schließen. Die Bewohner der umliegenden Sozialbauten sind zu arm. Problemquartier heißt das im neuen Wortschatz der Hauptstadt. Von Poesie redet hier niemand, von Grenzen um so mehr, vor allem von denen, die man nicht mehr überwinden kann.

Am legendären Checkpoint Charlie ist die Grenze gefallen, die Grenze zwischen Ost und West. Nun markiert der Checkpoint Charlie die Grenze zwischen Süd und Nord. Vielleicht wäre sie hier besser aufgehoben, die „Stadtmitte“. Oder zumindest die Mitte der Friedrichstraße. Uwe Rada

Sie sehen eine Fotoreportage von Akinbode Akinbiyi

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