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Letter from ShanghaiHannover des Ostens

■ Künstliche Seen allerorten: Kleine Chinakunde für Daheimgebliebene

Es gibt Leute, die kennen nichts Schöneres, als auf Reisen in der fremdesten Umgebung noch Vergleiche mit dem Heimatort anzustellen. Wir kennen sie alle, die Herzberger, für die Herzberg am Harz überall ist, nur eben nicht so schön wie in Herzberg. Für den Herzberger in jedem von uns werden jene Reiseführer geschrieben, die auch den exotischsten Ort auf beruhigende Weise den eigenen Erfahrungen anverwandeln und damit weniger befremdlich gestalten.

Weil nun der Vergleich mit Herzberg nicht zu allem taugt, wohl aber der mit den aus Funk und Fernsehen sattsam bekannten Orten wie Paris oder Venedig, ist das westlichste „Paris des Orients“ das Beirut der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Saigons Reputation als „Paris des Ostens“ ist ebenso kolonialen Ursprungs wie im Falle Shanghais, das immerhin von sich behaupten kann, die östlichste französische Metropole östlich des Suezkanals gewesen zu sein. Die für ihre traditionellen chinesischen Gärten zu Recht berühmte Stadt Suzhou (zirka 90 Kilometer westlich von Shanghai in der Provinz Jiangsu gelegen) könnte vermutlich auch ganz gut ohne das Etikett eines „Venedig des Ostens“ auskommen, das ihr die Tourismusbranche dank der hier aufgrund schlammiger Bodensubstanz ebenfalls vorkommenden Kanäle und den daraus notwendig folgenden Brücken aufgeklebt hat.

Suzhou wiederum teilt mit Hangzhou das Kompliment eines chinesischen Sprichworts, das besagt, sie seien ein „Paradies auf Erden“, eine Qualität, die ihnen in den Augen eines Shanghaier Großstadtbewohners auf Wochenendausflug durchaus immer noch zukommt. Hangzhou, die Hauptstadt der südöstlich von Shanghai gelegenen Provinz Zhejiang, könnte mit Fug und Recht den Beinamen eines „Hannover des Ostens“ für sich beanspruchen, ist seine wichtigste Attraktion (und dies seit über 1.000 Jahren!) doch der aus einer seichten Flußbiegung künstlich angelegte Westsee.

China hat viele Westseen, dies ist der berühmteste. Von einem Kaiser gestaltet, von Dichtern besungen, eine Landschaftskulisse wie in den traditionellen Tuschbildern, die sie inspirierte. In einem der schönsten Gärten Kyotos findet sich ein abstrakter Westsee aus weißen Kieseln – Hommage an einen kulturellen Topos von einer Tiefe, von der der bekanntlich ebenfalls künstliche und ebenfalls sehr seichte Maschsee in Hannover mit seinem Ursprung aus einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Dritten Reiches nur träumen kann.

Nun sind beide Seen besonders bei Nebel sehr schön; in Hangzhou wird der ästhetische Reiz verschwommener Aussicht auf glatte Wasserfläche durch zwei obstbaumbestandene Dämme und die milden Schwingungen der Teeberge am westlichen und südlichen Ufer des Sees noch wesentlich gesteigert, Boote ziehen langsam über das Wasser, und nur selten gellt das Megaphon eines Reiseleiters. Spaziert man abends an der Uferpromenade oder fährt mit dem Taxi in die Stadt, sieht man Bekanntes. Weniger aus Hannover allerdings denn aus Shanghai: Die Bäume sind feenhaft von den Wurzeln an aufwärts mit grünen und violetten Scheinwerfern angestrahlt, das Teehaus am Rande der Promenade, das Hotel und viele andere Gebäude erstrahlen im Glanz der vielen Birnen, die liebevoll ihre Silhouetten in den Nachthimmel zeichnen.

Fotografiert, aber nicht nur dann, ergibt das einen „Twin Peaks“-haften Effekt von hoher Surrealität, läßt den westlichen Besucher allerdings auch einmal mehr rätselnd zurück. Ist das nun wieder der so gern unterstellte chinesische Hang zu Kitsch und schlechtem Geschmack, so könnte man fragen, oder haben wir es hier, um die Grübelei auf die einem Kulturtouristen angemessenere Stufe zu stellen, mit dem auch in chinesischen Gärten vorzufindenden Ideal einer durch höchste Artifizialität gleichsam überhöhten Natur zu tun? Wäre ja auch wieder sehr typisch.

An chinesischen Bekannten ausprobiert, verlieren beide Theorien sehr viel an Plausibilität. Der eine hat angesichts der Lampen ausschließlich den Wunsch, man möge sie ausschalten. Der andere vermutet, daß die meisten Chinesen wohl versichern würden, man habe hier westlichem Geschmack und der Freude an der Stadtillumination Rechnung getragen und sich somit allen modernen Trends aufgeschlossen gezeigt. Vielleicht eine Anregung für das „Hangzhou des Westens“, es zur Weihnachtszeit einmal mit illuminierten Alleebäumen zu versuchen? Stephanie Tasch

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