: Weiche trug zu Escheder ICE-Unglück bei
■ Gutachten stellen bisherige Theorie des Unfallablaufs in Frage
Hannover (taz) – Die ICE-Katastrophe von Eschede ist vermutlich nicht nur durch den Bruch eines Radreifens, sondern auch durch eine bisher nicht erklärliche Fehlfunktion einer Weiche ausgelöst worden. Der Staatsanwaltschaft in Lüneburg liegen Zwischenergebnisse der drei Gutachten vor, mit denen die Ursache des Unglücks geklärt werden soll.
Diese Gutachten stellen offenbar die bisherige Theorie des Unfallablaufs in einem wesentlichen Punkt in Frage. Bisher ging die Staatsanwaltschaft Lüneburg, wie das Eisenbahnbundesamt, davon aus, daß ein verkanntetes Rad des Drehgestells, an dem schon sechs Kilometer zuvor ein Radreifen gebrochen war, gegen die Zunge einer Weiche schlug und dabei nicht nur ein 30 cm langen Stück abriß, sondern die Weiche auch umstellte. Dies löste dann die Katastrophe aus, bei der 101 Menschen starben: Der dritte Wagen des ICE wurde dadurch mit seinem hinteren Drehgestell auf ein benachbartes Gleis geführt, der vierte prallte gegen den Pfeiler der Eisenbahnbrücke am Bahnhof Eschede und brachte sie zum Einsturz.
Die Theorie, daß die Weiche durch den Aufprall des entgleisten Drehgestells umgestellt worden ist, „müssen wir leider aufgeben“, sagte der Sprecher der Lüneburger Staatsanwaltschaft, Jürgen Wigger. Damit die Weiche umspringe, müßten drei Gestänge zusammen reagieren. „Daß sie sich durch Erschütterungen des entgleisten Zuges selbst umgestellt hat, ist eine Theorie, die wir nicht sofort von der Hand weisen können“, sagte Wigger. In diesem Falle müsse es technische Konsequenzen geben. Ausschließen könne man Eingriffe von außen.
Nach den Gutachten bildeten die Verformungen des Radreifens, die lange vor dem Unglück festgestellt worden waren, Hinweise auf den im Inneren beginnenden Ermüdungsbruch. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg ermittelt unter anderem gegen zwei verantwortliche Mitarbeiter des ICE-Werks München, die den Hinweisen nicht nachgegangen waren. Das Eisenbahnbundesamt wollte sich zu den neuen Erkenntnissen noch nicht abschließend äußern. „Wir bleiben bis auf weiteres bei unserer Ansicht, daß die Weiche durch den Aufprall des entgleisten Drehgestells umgestellt worden ist“, sagte der Sprecher des Amtes, Mark Wille. Keine Weiche könne so konstruiert sein, daß sie dabei nicht umspringen könne. Jürgen Voges
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