: Der Kanzlerdarsteller live
■ Gerhard Schröder stellte beim Neujahrsempfang des Senats im Bremer Rathaus eine wesentliche Frage: „Wenn Bremen Spitze ist, warum braucht ihr unsere Kohle?“
Die Zeiten haben sich geändert. Klaus Möhle, der grüne Abgeordnete, der in der Vergangenheit Aufsehen erregte, weil er die ungeschriebene Kleiderordnung der Bürgerschaft verachtete, steht im schwarzen Anzug vor der roten Kordel, die das Rednerpult im Rathaus vor zudringlichen Gästen schützen soll und wartet auf den Kanzler. Die grüne Ex-Senatorin Helga Trüpel trägt einnen edlen Blazer aus roter Seide. Doch bevor Schröder das Wort ergreift, nutzt Bürgermeister Henning Scherf (SPD) den Neujahrsempfang des Bremer Senats, um sich beim Kanzler zu bedanken. 7,7 Milliarden Mark Sanierungshilfe hat der Bund dem Land Bremen diese Woche bis 2004 zugebilligt. „Das ist eine riesige Chance“, sagt Scherf. Das Land sei auf dem richtigen Weg. „Bremen liegt beim Wirtschaftswachstum und bei den Steuereinnahmen an der Spitze aller Bundesländer.“
Der trockene Kommentar des Kanzlers: „Wenn Bremen überall an der Spitze liegt, frage ich mich, warum braucht ihr unsere Kohle eigentlich?“ Gelächter. „Das Geld kommt“, verspricht Schröder. „Das sind keine Almosen“, beeilt er sich zu versichern. „Diese Stadt bleibt uns lieb und auf absehbare Zeit auch teuer. 2004 gibt es nix mehr. Bis dahin müßt ihr fertig sein mit der Sanierung.“ Über die Steuerpolitik will Schröder nicht reden. „Das interessiert Sie ja doch nicht.“ Er spricht lieber über Europa. „Die EU finanzierbar zu machen, heißt nicht, alles bei den Deutschen abzuladen.“ Um „ein großer Europäer“ zu werden, würde er „gerne“ durch Europa reisen und „überall Geld lassen. Aber es gibt eine ganz schlichte Begrenzung. Wir ham's nicht“, sagt Schröder. Ihm sei nicht bange, auch mal „der Böse“ zu sein. „Das hat nix mit einem Rückfall in den Nationalismus zu tun.“ Europa dürfe nicht an den osteuropäischen Grenzen enden. Die Menschen in Osteuropa hätten ein „Recht darauf, am Haus Europa mitzuarbeiten.“
Über Schwierigkeiten der Regierungskoalition in Bonn verliert Schröder kein Wort. „Es ist doch schön, wenn aus einem ehemaligen Frankfurter Straßenkämpfer in Turnschuhen ein vorzeigbarer Außenminister wird“, sagt er über den grünen Außenminister Joschka Fischer, der gern Anzüge von Armani trägt. „Da kann man sich doch freuen.“ Klaus Möhle klatscht. „Und es ist auch schön, wenn Vertreter des äußeren, linken Flügels der SPD jetzt respektable Senatspräsidenten sind.“ Scherf strahlt. „Sie sehen einen rundum optimistischen Menschen vor sich“, schließt der Kanzler.
Nach seiner Rede taucht Schröder ins Bad der Menge. Rund 800 Leute sind gekommen, um den Kanzler zu sehen. „Es ist mir eine Ehre“, sagt ein junges Mädchen, reicht Schröder die Hand und macht einen leichten Knicks. Schröder läßt sich mit Schülern fotografieren. Der „Kanzlerdarsteller“ (Stern) ist in seinem Element. Axel Schuller, früherer Lokalchef beim Weser-Kurier, jetzt Chefredakteur des Anzeigenblattes Weser-Report, gibt dem Kanzler die Hand und stellt sich artig vor. „Axel Schuller, Weser-Report.“ „Aha“, sagt der Kanzler und dreht sich um. Er gibt heute keine Interviews. Die schwarze Limousine wartet schon. Nur eine Frage beantwortet der Kanzler noch, bevor er das Rathaus verläßt. „Sind Ihnen die Kleinstaaten politisch wirklich so viel wert?“ Schröder: „Man darf Bremen doch nicht als Kleinstaat bezeichnen. Bremen ist eine alte Stadtrepublik. Ich habe nicht vor, dieser alten Stadtrepublik ans Leder zu gehen.“
Kerstin Schneider
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