Die Propaganda der Freiheit

■ Vom Kalten Krieg zum Lärmkrieg: Ende 1961 ging in Berlin das "Studio am Stacheldraht" an die Lautsprecher. Die Empfehlung an die Brüder im Osten: "Deutsche, schießt nicht auf Deutsche

Berlin im Dezember 1961. Ein VW-Bus hält an der seit einigen Monaten errichteten Mauer. Die aufmontierten Lautsprecher zeigen nach Osten. Plötzlich ertönt die Melodie des amerikanischen Zapfenstreiches und eine eindringliche Stimme spricht: „Achtung, Achtung, hier spricht das Studio am Stacheldraht. Wir sagen euch, wer einen Menschen erschießt, begeht einen Mord. Eure Schande wird um die ganze Welt gehen. Mord bleibt Mord, auch wenn er befohlen wird.“

Adressaten dieser ungewöhnlichen Nachricht sind Grenzsoldaten, Volkspolizisten und Kampfgruppen der DDR, die entlang der Mauer patrouillieren. Als der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer im August 1961 die frisch gezogene Demarkationslinie besichtigte, schallte das Karnevalslied „Da sprach der alte Häuptling der Indianer, wild ist der Westen...“ aus dem östlichen Teil herüber. Als dann auch noch die ersten Toten an der Mauer beklagt werden mußten, war das Maß voll. Die Westberliner Landesregierung rief Ende 1961 das „Studio am Stacheldraht“ ins Leben. Als Antwort auf die Propagandatätigkeiten des SED-Regimes und um junge Grenzsoldaten aufzufordern: „Deutsche, schießt nicht auf Deutsche.“

Die ersten Sendungen finden unter Polizeischutz statt. Nicht grundlos, denn Tränengas und Nebelkerzen sind häufige Reaktionen auf die westliche Beschallung.

Zunächst über kleine, batteriebetriebe Lautsprecher, später über eine Anlage mit 50.000 Watt, versucht der Westen, seine politische Position den OstberlinerInnen klarzumachen. „Wir hatten die stärkste Lautsprechanlage der Welt. Man konnte uns auch noch über eine Entfernung von 20 km hören. Wenn man zu nah an die Anlage herankam, mußte man sich übergeben“, erzählt Heinz Gerull, der letzte Leiter des „Studios“.

Grundsätzlich werden jedes Jahr die offiziellen Kundgebungen der DDR zum 1.Mai gestört. „Einmal beschallten wir eine Militärparade mit fetziger Disco-Musik. Strammer Gleichschritt war dann bei den Soldaten nicht mehr zu sehen“, so Gerull.

Im Oktober 1965 stellte das „Studio am Stacheldraht“ seinen Betrieb ein. Die ausgebauten Rundfunkanstalten RIAS und SFB machten die mobilen Sendungen obsolet. Julia Beek