Klassikerinventur oder Die Lust an der Liste

■ Das Jahrhundert als Lesevorgang: Die 76 besten deutschsprachigen Romane, jetzt amtlich

Mit der Vergangenheit wächst die Angst zu vergessen und damit der Drang, das Vergangene festzuhalten. Am Jahrhundertende scheint die Vergangenheit mathematisch veranlagten Gemütern besonders weiträumig, entsprechend schwillt das Bedürfnis, ihr Ordnung und Übersichtlichkeit beizubringen. Also, rasch eine Liste erstellt. Nachdem der Verlag Random House bereits im Frühsommer 98 ein Liste der hundert besten Bücher des Jahrhunderts erstellte und der Independent spöttisch mit der Liste der 100 schlechtesten Bücher konterte, dachte man sich im Literaturhaus München und bei Bertelsmann, daß auch der deutschsprachige Roman endlich seine Jahrhundertinventur erfahren müsse. So hat man je 33 Autoren, Kritiker und Germanisten gebeten, die drei für sie wichtigsten deutschsprachigen Romane zu benennen. Man merke: dreimal 33 macht 99. Ist das nicht toll? Für jedes Jahr eine Antwort! Doch wie so oft wurde auch diese schöne Rechnung in der Praxis zunichte: Nur 89 Befragte antworteten und nannten insgesamt 76 Titel. Daraus ergibt sich jetzt die etwas windschiefe Liste der 76 wichtigsten Romane, als wären wir Deutschen nicht in der Lage, die 100 vollzumachen.

Die Liste ist ein ziemliches Kunterbunt, das von Alfred Andersch über Rainald Goetz und Raoul Hausmann, Ernst Jünger, Patrik Süßkind und Wolf von Niebelschütz bis zu Peter Weiss reicht. Drei Frauen sind auch dabei (Ingeborg Bachmann, Anna Seghers, Marianne Fritz), ansonsten ist die Auswahl eine männliche Angelegenheit. Kein Wunder – ist doch das Listenerstellen per se eine eher männliche, besonders in der Pubertät praktizierte Handlungsweise. Man lese nur Nick Hornby, dessen Roman „High Fidelity“ mit den „Top Five der unvergeßlichsten Trennungen“ beginnt, oder Matthias Polityckis „Weiberroman“, in dem unentwegt die blondesten Frauen, die bescheuertsten Namen oder die wichtigsten Platten der jeweiligen Jetztzeit tabellarisch erfaßt und listenmäßig rubriziert werden.

So scheint es geradezu zwangsläufig, daß in der Liste der 76 wichtigsten deutschsprachigen Romane Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ mit 35 Stimmen auf Platz 1 landete – enthält er doch bereits im Titel alle Ingredienzien, die das Listenmachen verlangt: Mannsein und Eigenschaftslosigkeit. Denn die Lust an den Listen – das ergibt sich aus ihrer männlich-pubertären Genealogie – verhüllt eine Leere: Sie treten immer dann in Gebrauch, wenn es zur Begriffsbildung nicht recht ausreichen will.

Hinter Musil folgen Franz Kafka („Der Prozeß“) und Thomas Mann („Der Zauberberg“) mit 32 und 29 Nennungen auf den Plätzen. Immerhin 18 Stimmen erhielt Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Dahinter plaziert: „Die Blechtrommel“, „Jahrestage“, „Buddenbrooks“, „Radetzkymarsch“, „Das Schloß“ und „Dr. Faustus“ – nicht gerade originell, aber solide. Das deutschsprachige 20. Jahrhundert hat seine Klassiker gefunden. Daß es sich dabei um einen Österreicher, einen Prager und einen ostgalizischen Juden, zwei Exilanten, einen Kaschuben und einen Mecklenburger in New York und London handelt, sollte uns Staatsbürgerschaftsverwirrten des Jahres 99 zu denken geben. Die deutsche Literatur zumindest wäre ohne ihre Ausländer nichts.

Franz Kafka ist in der Liste mit fünf Titeln vertreten. Ebenso Arno Schmidt, dem so betrachtet eigentlich auch allerhöchste kanonische Weihe gebührt. Vier Titel wurden von Robert Walser genannt und je drei von Hermann Broch, Thomas Mann, Joseph Roth und Anna Seghers. Die erste Jahrhunderthälfte ist eindeutig überrepräsentiert. Vielleicht deshalb, weil sie in der Klassikerwerdung 50 Jahre Vorsprung hat. Oder deshalb, weil Germanisten Bücher, die nach 1945 erschienen sind, nur dann kennen, wenn sie ins Umfeld der Gruppe 47 gehören.

Tröstlicherweise ist jede Liste immer nur vorläufig und drängt darauf, wie Börsenkurse oder Bundesligatabellen von Woche zu Woche aktualisiert zu werden. Da wird sich in den nächsten 100 Jahren noch so manches verändern. Jörg Magenau