: Aus nächster Nähe erschossen
■ Die Bewohner von Racak konnten nur noch fliehen, als am Freitag morgen serbische Polizisten in ihr Dorf eindrangen. Wer nicht schnell war, wurde ein Opfer der Uniformierten. Mit dem Massaker von Racak wurden wieder einmal die Hoffnungen auf einen dauerhaften Frieden zunichte gemacht
Sonntagmorgen, 7.30 Uhr. Vor der kleinen Moschee im Dörfchen Racak stehen zwei Pferdewagen. Zwei Tote werden ins Gebetshaus getragen. Vom Hügel kommt noch ein weiterer Wagen herangefahren mit der Leiche eines gräßlich zugerichteten Kindes. Etwa zehn Männer, einige davon bewaffnet, stehen bei den Pferden. „Gehen Sie ruhig hinein“, fordert Ismet Emini mit ruhiger Stimme auf, „schauen Sie sich das ganz genau an.“ Im Inneren der Moschee zeigt sich ein grauenhaftes Bild. Fast der ganze mit Teppichen ausgelegte Boden ist mit Toten ausgefüllt. Etwa 40 Leichen liegen dort, die Köpfe mit einem Tuch verhüllt. Bei einem hat man den ganzen Oberkörper abgedeckt; der Kopf fehlt. Alle tragen zivile Kleidung; blutverschmierte Hosen und Jacken. Einige strecken den Arm in die Höhe, andere sind mit angewinkelten Beinen hingelegt worden, offenbar gerade so, wie sie in der Kälte gestorben sind. Zwischen den Toten drängeln sich Männer. Sie sind gekommen, um nach ihren Verwandten zu suchen.
Der 45jährige Ismet Emini, wohnhaft im schweizerischen Rheinfelden, arbeitet bei British Petroleum in Kaiseraugst bei Basel und ist am Heiligabend in Racak angekommen. Wie jedes Jahr um diese Zeit hat er sich einen Monat Urlaub genommen, um seine Verwandten zu besuchen. „Am Freitag morgen um sechs Uhr umstellte die Armee unser Dorf“, berichtet er, „dann kam die Polizei und forderte alle auf, aus den Häusern zu kommen, die Männer wurden von den Frauen und Kindern getrennt. Uns Männern wurde befohlen, die Straße hier längs zu gehen.“ Kaum seien sie am Dorfrand angekommen, seien überall Schüsse gefallen. „Von den etwa dreißig Männern, die mit mir querfeldein flüchteten, wurden drei getötet“, berichtet Ismet Emini, „wir übrigen überlebten zusammengekauert in einem Graben, in dem wir bei eisiger Kälte acht Stunden ausharrten, bis die Polizei abzog – vielleicht hat man uns nicht gesehen, vielleicht hielt man uns auch für tot.“ In der Moschee liegen sein Bruder und sechs Cousins. „Mein Bruder ist neben mir hingerichtet worden“, sagt er und zieht ein Stück Schädelknochen, verschmiert mit angetrocknetem Blut, aus der Tasche, „der Polizist schoß aus einem Meter Entfernung, dieser Knochensplitter flog mir direkt entgegen.“ Dann hält er die zerschossene Wollmütze seines Bruders hin. Er selbst sei zum Glück nur von einem Schuß am Unterarm gestreift worden, meint Ismet Emini und krempelt zum Beweis den Ärmel hoch. Seine Frau hat er seit Freitag nicht mehr gesehen. „Sie ist mit der Schwägerin und den Kindern seines Bruders irgendwohin in die Berge geflohen“, erzählt er, „vielleicht aber auch nach Stimlje oder Pristina.“ Stimlje heißt die nur zwei Kilometer vom Dorf entfernte Kleinstadt, nach Pristina sind es immerhin dreißig Kilometer. „Meine Schwägerin weiß noch gar nicht, daß ihr Mann, der Vater ihrer fünf Kinder, tot ist.“
Die Männer vor der Moschee sind verzweifelt, einige schluchzen haltlos, andere starren still vor sich hin. „Sagen Sie den internationalen Organisationen in Pristina, sie sollen uns Beruhigungstabletten schicken“, sagt Hafiz Mustafa, „wir sind mit den Nerven am Ende.“ Sein 18jähriger Sohn Muhamed liegt tot in der Moschee. Er selbst sei um fünf Uhr aufgestanden, berichtet der 58jährige Vater, den man ohne weiteres zwanzig Jahre älter schätzen würde, um noch vor Sonnenaufgang zu frühstücken, wie er es während des Ramadan, des islamischen Fastenmonats, immer halte. Um sieben Uhr sei dann die Polizei in sein Haus gekommen. Hafiz Mustafa konnte gerade noch rechtzeitig sein Pferd und die vier Kühe freilassen und abhauen. Nun steht er vor einem rauchenden Trümmerhaufen. Das ist alles, was von seinem Stall übriggeblieben ist. Und in seiner Wohnung haben die Polizisten wie Vandalen gewütet: Fernseher, Schränke, Bilder – alles ist kurz und klein geschlagen. Immerhin ein kleines Foto haben sie hängenlassen. Es ist ein Bild des erschossenen Sohnes. Hafiz holt es von der Wand und schluchzt still vor sich hin. Etwa 2.500 Einwohner hatte Racak noch vor einem Jahr. Vergangenen Freitag war höchstens noch die Hälfte da. Viele Bauern, deren Häuser die serbischen Streitkräfte bei ihrer Offensive im vergangenen Sommer zerschossen oder niedergebrannt hatten, sind in anderen Dörfern untergekommen. Als es vor einer Woche in der Nähe zu einem Scharmützel zwischen der albanischen UCK und serbischer Polizei kam, flohen weitere Hunderte. Und am Freitag rettete sich, wer konnte. Erst ganz wenige Männer sind zurückgekehrt, um die Toten zu bergen. Auch zwei ältere Frauen. Sie schreien haltlos vor sich hin, lassen ihrem Schmerz freien Lauf.
Im Dorf sind einige bewaffnete Männer zu sehen. Sie gehören zur UCK. In Racak gebe es keine militärischen Einheiten der Guerilla, berichten die Bauern einstimmig, nur eine bewaffnete Dorfwache der UCK, die sich aus Männern aus dem Dorf selbst zusammensetze. „Auch uns blieb angesichts der Übermacht nichts übrig, als zu fliehen“, meint ein junger Mann mit einem Holzkarabiner, „wir hatten keine Chance.“ Einige derjenigen, die die Häuser gestürmt und die Männer massakriert hätten, habe er erkannt: „Es waren Zivilisten aus Stimlje dabei, die sich eine Polizeiuniform übergezogen hatten.“ Der junge Mann, der aus Angst vor Repressalien seinen Namen nicht nennen will, berichtet auch, daß einige Polizisten schwarze Strumpfmasken getragen hätten.
Es ist 8.30 Uhr geworden. Inzwischen sind ein halbes Dutzend orangefarbener Jeeps und Geländewagen der OSZE eingetroffen. „Wir warnen Sie“, sagt einer der internationalen Beobachter, „fahren Sie sofort zurück! Aber es ist Ihre Entscheidung.“ Über Funk habe er gerade erfahren, daß in Kürze die Polizei hier oben eintreffen werde, um „unabhängige Untersuchungen“ durchzuführen. „Es kann zu Schießereien kommen“, meint der Brite, „einige Leute hier sind bewaffnet.“
Unten, bei der Abzweigung in Stimlje, hat die OSZE einen Jeep quergestellt und die Straße blockiert. Daneben steht eine Patrouille der serbischen Polizei. Journalisten wird der Zutritt verweigert. Kaum zurück in Pristina, melden die Nachrichten: „In Racak sind militärische Auseinandersetzungen im Gange.“ Thomas Schmid, Racak
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen