: Bitte an die Kollegen Von Carola Rönneburg
Bei manchen Menschen ist der Spieltrieb einseitig ausgeprägt. So sind mir die Doppelkopfzirkel bis heute verschlossen, und von Skat habe ich erst recht keine Ahnung, was der leidgeprüfte Dr. Peczinek bestätigen kann: Er bemühte sich einst wochenlang, mir die Bauernskatregeln beizubringen – gewissermaßen als Grundlage für einen Anfängerkurs –, ich aber konnte mir einfach die Reizzahlen nicht merken. Bei jeder Partie mußten wir ganz von vorn beginnen, und nachdem selbst ein Memorandum nicht weiterhalf, dessen erster Satz „Man MUSS bedienen!“ lautete, brach Dr. Peczinek den Unterricht ab.
Wenn keiner mehr mit einem spielen will, bleibt nur noch der Computer. An ihm entdeckte ich eines Tages die Mahjong-Variante „Shanghai“. „Shanghai“ ähnelt einem dreidimensionalen Memory- Spiel: Die Karten liegen aufgedeckt, aber raffiniert übereinandergetürmt vor dem Spieler, was die Suche nach Paaren erschwert. Und sie machen Geräusche! Zum Beispiel die Tiermotive, mit denen ich spielte – ist der zweite Fisch oder Kakadu gefunden, blubbert bzw. kreischt es aus dem Lautsprecher.
Wenn man alle Löwen und alle Hunde gefunden hat, senkt sich ein roter Vorhang über den Bildschirm. Eine Fanfare ertönt, gleich darauf erscheint ein chinesischer Glückskeks, der knackend zerbricht. Und nun entrollt sich eine herrlich sinnlose Botschaft, die etwa „Some day your ship will come in, but you'll be at the airport“ verkündet.
Erst wurde ich süchtig nach Glückskeksen. Dann meine Kollegen, die mir zunächst nur interessiert zugeschaut hatten, nun aber ebenfalls „Shanghai“ spielten. Anfangs in jeder freien, später in jeder freigeräumten Minute saßen wir vor unseren Arbeitsgeräten und ließen Tiere verschwinden. Aus jedem Büro hörte man endloses Telefonläuten – Anrufe wurden nicht mehr beantwortet – und Hühnergegacker. In den wenigen Pausen, die wir uns gönnten, diskutierten wir die Schwierigkeitsstufen von „Shanghai“ und interpretierten Glückskeksbotschaften, die wir mittlerweile auf kleinen Haftnotizzetteln festhielten und rund um unsere Monitore angeordnet hatten: Gesäumt mit Ansammlungen unzähliger Botschaften, erinnerten unsere Bildschirme an Sonnenblumen.
Bald darauf eroberte unsere Hauptbeschäftigung aber auch unseren Schlaf. Einige wurden vom riesenhaft vergrößerten Kakadu in ihren Träumen heimgesucht, anderen erschien regelmäßig der Puma. Als ich auch noch Lieder mit der Schildkröte singen sollte, war es höchste Zeit für den letzten roten Vorhang: Mit einem kleinen Abendessen und einem großen Zigarettenvorrat ausgestattet, schloß ich mich nach Feierabend in meinem Büro ein und nahm eine Überdosis. Bis zwei Uhr nachts holte ich mir einen Glückskeks nach dem anderen, und am nächsten Tag entfernte ich „Shanghai“ leichten Herzens von meinem Rechner.
Das alles ist lange her. Inzwischen bin ich älter und weiser geworden. Und wenn ich das Spiel demnächst und auf eigenen Wunsch wieder auf meinem Computer finde, dann werde ich mich schon beherrschen können. Für den unwahrscheinlichen Fall, daß nicht: Helft mir! Haltet mich fest! Löscht die Kakadus!
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