■ Die Bedeutung der entschlüsselten Stasi-Bänder wird überschätzt: Über den Westen nichts Neues
Der Wunsch ist Vater des Gedanken: Tauchen neue Akten oder wie jetzt bisher unbekannte elektronische Aufzeichnungen der dahingegangenen Stasi auf, dann steigt nahezu gesetzmäßig die Anzahl der Agenten, die im Westen für die DDR spioniert haben sollen. Der Gauck-Behörde in Berlin ist es jetzt gelungen, vier bis dato geheime Magnetbänder zu entschlüsseln – schon kursiert für die ehemaligen Kundschafter für den Frieden als neue Zahl: mehr als 4.000. Bisher hieß es, auch auf Aufzeichnungen der Stasi gestützt: weniger als 2.000. Und als wären die Vorgänge gekoppelt, steigt mit der Zahl der enttarnten Agenten auch das Ausmaß des von ihnen verübten Verrats.
Jetzt wird offenbar, sagt beispielsweise der Oberste Verfassungsschützer in Köln, wie umfassend und skrupellos gegen die Bundesrepublik spioniert wurde. Sensationelle neue Enthüllungen erwartet der Behördenpräsident aber auch nicht. Und in der Tat: Die Stasi-Unterlagen geben nicht her, was mancher in sie hineinlegt. Zwar läßt sich aus der Zahl der vorhandenen Registrierungen immer ein Rückschluß auf irgendeine Anzahl von Agenten ziehen. Fraglich bleibt, ob die Ziffer auch nur im Ansatz realistisch ist. Selbst wenn die Mitarbeiter des Markus Wolf penibel zwischen „Inoffiziellen Mitarbeitern (die wissentlich für den anderen deutschen Staat arbeiteten) und „Kontaktpersonen“ (die nicht wußten, daß ihre Gesprächspartner vom Geheimdienst waren) unterschieden haben sollten – die aufgefundene Hinterlassenschaft läßt genaue Aussagen nicht zu. Strafrechtlich sind die Aufzeichnungen allenfalls Indizien – belastend wie entlastend –, für sich alleine nicht aussagekräftig genug. Das zeigt auch der Fall Wienand und die Ablehnung der Wiederaufnahme seines Verfahren.
Déjà-vu: Ein Mann geht an die Öffentlichkeit und verkündet voller Stolz, in Kürze werde eine regelrechte Enthüllungswelle durch das Land schwappen und am Ende an die 2.000 frühere Agenten vor die Schranken der Justiz spülen. Neue Akten, neues Glück, behauptete Mitte 1993 der Staatsminister Bernd Schmidbauer. Keine vier Magnetbänder wie heute, sondern auf drei Filmen archivierte Sicherheitskopien sollten damals den definitiven Stasischatz bergen. Die großartigen Enthüllungen blieben aus, seit 1991 kam es gerade mal zu 71 Gerichtsverfahren.
Mag die Zahl der Spione, mag das Ausmaß des Verrats ruhig weiter steigen. Wenn die Aufregung verflogen ist, lassen sich die neuen Erkenntnisse als Mosaiksteine in das bisher bekannte Bild über die DDR-Spionage einpassen. Und ist dieses Puzzle gelöst, legen wir ein neues: über die Arbeit des Westgeheimdienstes gegen die DDR. Wolfgang Gast
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