piwik no script img

Kumpel prügeln sich gen Bukarest

Bei ihrem Protestmarsch in die rumänische Haupstadt nehmen Bergarbeiter Sicherheitskräfte als Geiseln. Verhandlungsangebot der Regierung erneut abgelehnt  ■ Aus Bukarest Keno Verseck

Die Bergarbeiterrevolte in Rumänien spitzt sich zu. Zwischen den Bergarbeitern und Sicherheitskräften kam es gestern zu schweren Zusammenstößen. Bei der Ortschaft Horezu 200 Kilometer nordwestlich von Bukarest griffen am Nachmittag zehntausend Bergarbeiter die dort stationierten 6.000 Polizisten, Gendarmen und Spezialeinheiten des Innenministeriums mit Knüppeln und Steinen an und durchbrachen die Straßensperren. Die Beamten setzten zunächst massiv Tränengas ein, konnten die Bergarbeiter aber doch nicht aufhalten. Die Zahl der Verletzten stand bis zum späten Nachmittag nicht fest, scheint aber erheblich zu sein.

Die Bergarbeiter, die höhere Löhne und die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze im heimischen Jiu-Tal fordern, nahmen bei den Zusammenstößen mehrere Polizisten und Gendarmen fest, die sie als Geiseln bei ihrem weiteren Vormarsch benutzen wollen. Bei Redaktionsschluß marschierten die Kumpel in Richtung der Stadt Rimnicu Vilcea, die 150 Kilometer nordwestlich von Bukarest liegt.

Kurz vor den Zusammenstößen hatte die Regierung den Bergarbeitern zum dritten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden Verhandlungen über ihre Forderungen angeboten und zu diesem Zweck eine Kommission unter der Leitung des Arbeits- und Sozialministers Alexandru Athanasiu in die Stadt Rimnicu Vilcea entsandt, die in der Nähe der Ortschaft Horezu liegt. Der Bergarbeiterführer Miron Cozma lehnte das Verhandlungsangebot jedoch ab. Die offensichtlich gut organisierten Bergarbeiter hatten bereits am Morgen begonnen, ihre Busse, Lastkraftwagen und Autos aufzutanken und sich mit Knüppeln und Steinen zu bewaffnen.

Staatspräsident Emil Constantinescu hat unterdessen gestern Krisenberatungen mit den Vorsitzenden aller Parlamentsparteien abgehalten. Constantinescu äußerte sich zugleich dahingehend, daß er es bislang noch nicht für notwendig erachte, den Ausnahmezustand in Rumänien zu erklären. Eine Sondersitzung der beiden Parlamentskammern, auf der über die Bergarbeiterrevolte diskutiert werden soll, ist für Montag anberaumt. Verteidigungsminister Victor Babiuc wollte einen Einsatz der Armee gestern nicht mehr ausschließen, falls sich die Bergarbeiter der Hauptstadt weiter nähern würden. Bislang sind die Sicherheitskräfte nur mit Gummiknüppeln, Schilden und Tränengas bewaffnet.

Die Regierung gerät unterdessen immer mehr unter Druck. Am Mittwoch abend hatten die drei größten Gewerkschaftsföderationen Rumäniens die Regierung für die Lage verantwortlich gemacht und mit einem Generalstreik gedroht, falls die Exekutive mit den Bergarbeitern nicht verhandele, sondern Gewalt einsetze. In der Region, in der gestern die Auseinandersetzungen zwischen Bergarbeitern und Sicherheitskräften stattfanden, kam es zu Solidaritätskundgebungen für die Bergarbeiter. In der Stadt Rimnicu Vilcea forderten mehrere hundert Demonstranten die Sicherheitskräfte auf, den Bergarbeitern den Weg nach Bukarest freizugeben.

Die Einwohner der Hauptstadt haben sich dagegen mit Schutzmaßnahmen auf einen Anmarsch der Bergarbeiter vorbereitet. Die Redaktionen der meisten Zeitungen und Fernsehsender sicherten ihre Gebäude mit privaten Sicherheitsbeamten ab, Geschäfte auf den großen Bukarester Hauptstraßen nahmen ihre Waren aus den Auslagen.

Bei den vier Bergarbeiterüberfällen auf Bukarest in den Jahren 1990 und 1991 hatten Tausende von aufgebrachten und randalierenden Kumpeln die Hauptstadt verwüstet und Pogrome unter antikommunistischen Studenten und Roma angerichtet. Dabei waren sechs Menschen getötet und Hunderte schwer verletzt worden. Die Bergarbeiter hatten außerdem vor allem Zeitungsredaktionen und die Zentralen der damaligen Oppositions- und heutigen Regierungsparteien angegriffen, aber auch Geschäfte geplündert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen