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Apfel für alle

Von Jochen war die Art: Blumfeld, Deutschlands romantischste Band, haben ein drittes Album geschafft. Ein hymnisches Bekenntnis zur Gesamtidee Liebe  ■ Von Thomas Groß

Ein Distelmeyer, das ist meiereitechnisch wie namensgeschichtlich einer, der sein Feld zwischen Dornen bestellt. Wer so heißt, kommt vielleicht leichter auf christliche Gedanken. Und freut sich, wenn wieder was blüht.

Blumfeld ist der Name der Band, in der Jochen Distelmeyer Gitarre spielt, singt und textet. Ihr Kennzeichen ist, daß immer, wenn man denkt, es käme nichts mehr, doch noch mal was kommt. Wie eben jetzt wieder, fünf Jahre nach dem letzten Album, fast ein Jahrzehnt nach den auch international beachteteten Anfängen als „perhaps the most influential and definitely most successful band from Germanys exciting new rock underground“. Lang, lang ist's her. Kennt noch jemand von euch Leuten da draußen Distelmeyer, den Dornenboy? Das just erschienene Werk trägt den Titel „Old Nobody“, und von Jochen war die Art. Soweit zum gesicherten Stand der Blumfeld-Forschung.

Die Blüte selbst sprießt erst mal ungewohnt in ihrer blausamtenen, synthetischen Pracht. Drums wie Herzschläge aus der Tiefe einer Placenta, ein Schwirren von Gitarren, ein nächtlicher Geigenhimmel aus dem Computer – die Single zum Album gibt den Ton an, vor dessen Grund sich von sehr, sehr weit her die Stimme erhebt. Und jetzt festhalten: „In mir / tausend Tränen tief / erklingt ein altes Lied / es könnte viel bedeuten / in den Tag hinein / will es bei dir sein /singt für dich allein / von neuen Möglichkeiten.“ Wahr oder weia? How deep is your love? Muß ich das wirklich ganz alleine aufessen? Uff, der Jochen.

Nicht, daß Blumfeld-Lieder nicht schon immer etwas Ängstigendes hatten. Ungeschützt und mit schlechter Haut wagten sie sich vor in eine Welt, für die sie irgendwie nicht gemacht schienen. Zeilen wie „Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg“ oder „Ich weiß gar nicht, wie das gehen soll: sich vereinigen“ ließen sämtliche Kitschalarmsirenen schrillen, weckten aber auch den Sinn dafür, daß da eine Kluft klafft zwischen dem normalen Erwachsensein der normalen erwachsenen Leute und dem kranken Kind ganz innen drin, das genau dahin nicht will.

Das machte selbst die Härtesten, die Politischen weich: Jochen, unser Mann im All! Wer sich in Bars herumtreibt, konnte auf unwahrscheinliche VerehrerInnen stoßen. Indes: Damals hießen die Stücke auch noch „Zeittotschläger (auf ihren Wegen)“ oder „Von der Unmöglichkeit, nein zu sagen, ohne sich umzubringen“. Das Übliche also. Jetzt klingt das alles auf eine beschwingte Art sehr viel ernster. Es geht um die Fähigkeit, ja zu sagen, ohne den Verstand zu verlieren. Jochen Distelmeyer versteht „Tausend Tränen tief“, den Leadsong zum neuen Sound, nicht nur als „eine Art Hymne auf Liebeslieder“, sondern als „hymnisches Bekenntnis zu der Gesamtidee Liebe“.

Was ist passiert? Kosovo-Krise beigelegt? Sozialismus mit menschlichem Antlitz endlich da? Hungerproblem gelöst (einfach mehr spachteln!)? Wenn man den Jochen so reden hört, scheinen in der Frage zumindest Teildurchbrüche möglich. „Das ist interessant, das ist schön“, sagt er, wenn eine Übereinstimmung sich andeutet, wenn das Gespräch ihn anregt und wieder mal zwei Menschen sich nicht streiten müssen. Er scheut aber auch den Einspruch nicht. Alles entscheidet sich für ihn an der Frage, wie wir – und das heißt: wir alle! – miteinander umgehen, „was wir als einzelne damit verbinden, wenn wir irgend jemand angucken oder mit dem oder der zusammenleben wollen“.

So führen wir einen manierlichen Diskurs. Keine Frage, der Jochen ist nett. Gar nicht wirkt er, wie man sich einen „Old Nobody“ vorstellt. Wo früher kurzfristig Elvis-Tolle war, ist jetzt wieder Seitenscheitel. Seine Kleidung ist von jener abgetönten, gerippten Pullundrigkeit, wie sie auch elektronische Feingeister bevorzugen. Insgesamt entspricht die Erscheinung ziemlich exakt der aktuellen Coverinszenierung: ein jungenhafter Dreißigjähriger mit leicht ministrantischem Appeal, von welchem letzteren man nicht weiß, ob er konserviert oder kultiviert ist oder beides.

Jochen faßt großbögig und erstaunlich professionell zusammen, was in den vergangenen fünf Jahren geschah: wie er mit gelegentlichen Auftritten und Plattenauflegen sein Geld verdiente. Wie Bassist Eike Bohlken sich irgendwann doch für sein Philosophiestudium entschied. Wie man in Peter Thiessen, dem Gitarristen der Hamburger Band Kante, eine auch menschlich adäquate Lösung fand und dann noch Michael Mühlhaus am Keyboard dazukam. Wie ihn die Sache mit der „HipHoptextschreibweise“, die auf den ersten beiden Platten vorherrscht, ein wüst-zartes Rausschreien der Botschaft, irgendwann einfach nicht mehr herausgefordert habe: zuviel Text, zu viele Wörter, zuwenig Simplizität.

Im Zentrum von Blumfeld 99 steht die Ballade, Crooning im Sinne von George Michaels „Jesus To A Child“, das Jochen für „die einzige wirklich ernst zu nehmende Ballade der letzten zehn Jahre“ hält: Mach es einfach, mach es kostbar. Pflanze das Apfelbäumchen. Keine Angst vor der großen Geste. Fühl es von innen, und füll es mit Inbrunst. Oder, wie Rio Reiser, mit dem Jochen schon verglichen wurde, es ausgedrückt hat: „Halt dich an deiner Liebe fest.“

An der Ballade entscheidet sich in Jochens Welt alles, trennt die Spreu sich vom Weizen. Sie ist die Naht, die Ethik und Ästhetik verbindet, an ihr erkennt er, „ob ich jemand als Mensch ernst nehmen kann oder nicht“. Echte Balladeers sind nämlich nur die Bescheidenen, die Demütigen. Das genau ist die Herausforderung: „daß das einfach ist, nicht abgehoben wirkt. Daß klar ist, daß das für alle ist“.

Eine überbordende Innenwelt als Maß aller Dinge – so ähnlich haben das irgendwann die Romantiker gesehen: Die Ballade als ästhetische Vorwegnahme der Volksrepublik, Legendentöne voller Weltwissen. Romantisch im Grunde ist auch der Distelmeyersche Versuch, den Rederaum so zu öffnen, daß in kunstvoller Naivität alle gemeine Ironie überwunden wird zugunsten einer höheren, objektiven Ironie, einer Ironie, die das Unsagbare, das Unsägliche gar wieder zur Verfügung stellt, weil ästhetisch im Endlichen das Unendliche durchscheint. Etwas zeitgemäßer ausgedrückt: Wo die Vibes stimmen, küssen sich Tief- und Schwachsinn in derart inniger Umschlingung, daß alles eins wird und es plötzlich wieder als geniale Idee erscheint, Zeilen zu schreiben wie „Wir fließen im Rhythmus / der Sonne entgegen“ oder „Wir teilen einen Traum / ein Bild aus anderen Zeiten“.

Nicht, daß nicht auch „Old Nobody“ aus Fragmenten gebaut wäre. Es gibt Samples von Bruce Springsteen („Unten am Fluß / die Nacht ist ein Meer“), Sokrates („Von nichts eine Ahnung“), Gott („Ich bin das Wort / Ich erfülle die Schrift“), Goethe („Durch Formen geschritten / ein Kommen und Gehen“), Johannes Mario Simmel („Du nennst es Liebe“), Rolling Stones („2000 Lightyears“), Hugo von Hofmannsthal („Deine Worte verfaulen“), Lassie Singers („Ein Traum, ein Kuß, ein Glück“), Rainald Goetz („Neue Wege / neue Nächte“), Blixa Bargeld („Ein Monster vom Himmel / ein Engel, der fällt“), Howlin' Wolf/Bob Dylan / Blind Willie McTell („Riding the blinds“), um nur einige zu nennen. Doch insgesamt erhebt das Werk den Anspruch, Zerrissenes zusammenzuführen, musikalische Universalpoesie zu sein. Jochen findet es in dem Satz von Ingmar Bergman, „ich bin als Ganzes erschaffen“, schön ausgedrückt. Man kann es auch so formulieren: „Old Nobody“ markiert den vollzogenen Übergang vom Sturm-und-Drang- Jochen zum klassisch-romantischen Jochen.

Der Olympier ist heiter in seinem Weltschmerz. Zum veritablen Klassiker gehört aber auch, daß alle früheren Werkphasen im aktuellen Wurf gewissermaßen hegelianisch aufgehoben sind. So sieht Jochen Distelmeyer in seinen Zeilen manches „aufscheinen“, „durchschimmern“. Die Idee des politischen Widerstands mag er gerade heute nicht aufgeben, sein Wandern durch die Formen empfindet er als Trauerarbeit für Kontexte, die „vorschnell für tot erklärt wurden: Gott, das Subjekt, die Linke, Rock, Techno, Postmoderne“. Position J: Alles, was zersplittert ist, zerdriftet in die reale Alltagswelt der urbanen Szenen und Nichtszenen in ihrem seinsvergessenen Zeittotschlägertum, schließt der Sänger mit ein in sein kunstreligiöses Gebet.

Aber, Menschenskind, Jochen! Ab einem bestimmten Punkt des Romantisierens schimmert zwangsläufig alles im allem auf und durch. Alles und nichts. „Old Nobody“ ist nicht einfach weißer Soul, es ist auch ein Spätwerk des deutschen Idealismus. Wesentlich abstrakt kreist es um letzte Dinge, um Liebe, Licht, Zeit, Raum, Tod, reimt „spüren“ auf „berühren“ – und schwiemelt schon mal ins Pastorale. Selbst die Geliebte, an der so vieles zu hängen scheint, bleibt eigenartig körperlos. No-body. Man erschrickt förmlich, wenn in die hochgestimmte Poesie des Herzens das prosaische Bild einbricht, daß „wir zu zweit ins Kino gehen“. Das gibt's also auch noch.

Und trotzdem: Wer sonst geht mit seinen Mitteln so weit. Blumfelds dritte ist einzigartig, komplex, outstanding. Niemand sonst in der deutschen Popmusik macht so was. Es ist eine aussterbende, wahrscheinlich vergleichsweise brotlose Kunst. Die Politischen werden es heimlich hören. Viva wird es spielen müssen, aber damit nicht glücklich werden. Im besten Stück der Platte steigt der Held sogar herab vom Olymp. Übung in Demut, ganz große Fußwaschung: „So lebe ich / zu später Stunde / ein schwaches Bild / ein grauer Star / ein Musicman / dreht seine Runden / ein Flug, ein Fall / ein neues Jahr.“

So fühlt es sich also auch an, Jochen zu sein. Man dachte sich's fast. Aber schön, es zu hören.

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