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Zu Gast beim Volk

■ Manuels Begriffsverwirrung mit der Bahn, der Verfassung und dem Volk

Wie schnell ein ehrlicher Mitbürger in Gewissensnöte geraten kann, erfuhr ich bei Manuel, einem Freund aus Galicien, der schon Anfang der 60er Jahre nach Stuttgart gekommen war. Ein Gastarbeiter der ersten Generation und sogar der ersten Stunde. Ein Vorbild in jeder Hinsicht. Fleißig und tüchtig, sparsam, integriert bis angepaßt, mit perfekten Deutschkenntnissen.

Nein, einbürgern hat er sich trotzdem nicht lassen. Er hat den Verlockungen der Einbürgerung immer wieder und konsequent widerstanden. Nicht etwa aus Nationalismus, nein, sondern aus Gastnationalismus. So hat er mir das erklärt: „Weißt du, ich schätze die Deutschen und das Deutschtum so sehr, daß ich erstens mich nicht würdig fühle, zu diesem deutschen Volk zu gehören, und zweitens die germanische Konzentration des deutschen Volkssaftes nicht verwässern möchte. Ich bin ja letztlich ein Gast, und als solcher will ich meinem Gastvolk nicht in den Rücken fallen.“

Aus demselben Grund enthält er sich der Forderung nach der doppelten Staatsangehörigkeit: Weil er, wie gesagt, die germanische Konzentration des deutschen Volkssaftes nicht verwässert sehen möchte, und noch dazu, weil er meint, Deutschsein sei unteilbar. Es sei ein so intensives Erlebnis, daß es alleine den ganzen Inneraum einer Person fülle. Es bleibe drinnen kein Platz mehr für eine zweite Staatsbürgerschaft. Ähnlich wie beim Spanischsein.

Ein richtiger Verfassungspatriot ist er, ohne ein Deutscher zu sein. Das deutsche Grundgesetz kennt er auch perfekt, auf jeden Fall wesentlich besser als die meisten seiner deutschen Mitbürger. Und er hält sich daran, immer, selbst wenn es ihm Nachteile bringt. Und es bringt ihm manchmal Nachteile und vor allem Unsicherheiten. Wie einmal am Bahnhof. Es war so:

Manuel wollte am Bahnhof eine Fahrkarte nach Hannover und zurück kaufen, wo er seinen verheirateten Sohn besuchen wollte. Wegen der Termine klappte es nicht mit dem Superspartarif. So fragte ihn die Dame am Schalter kundenfreundlich, ob er nicht eine BahnCard erwerben wolle. Sie sei ein Jahr gültig und werde sich schon fast bei dieser, spätestens bei der nächsten Fahrt auszahlen. Manuel verneinte und begründete seine Ablehnung folgendermaßen:

Er habe gerade in der großen Halle ein Werbeplakat der Bahn gesehen, und da stehe folgendes: „Ein ganzes Jahr Deutschland zum halben Preis für das ganze Volk.“ – „Ja, und?“ fragte die Dame am Schalter. – „Verstehen Sie nicht? Für das Volk, heißt es dort.“ – „Ja, eben“, erwiderte sie. „Gehören Sie etwa nicht zum Volk?“

Manuel wurde feierlich: „Eben nicht. Laut Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes sind nur diejenigen zum deutschen Volk zu zählen, die Deutsche sind im Sinne des Grundgesetzes. Ich bin lediglich zu Gast bei diesem Volk.“

Die Dame am Schalter war erschlagen. Daran hatte sie nicht gedacht, und bei der Bahn hatte ihr bislang niemand das so erklärt. Bis dahin hatte sie ohne Bedenken und ohne jede Beanstandung BahnCards an alle verkauft, die danach verlangten. Jetzt wurde sie unsicher. Sie bat meinen Freund, einen Augenblick zu warten, und verschwand durch eine Hintertür. Sie wollte sich beim Vorgesetzten Rat holen. Nach wenigen Minuten kam sie lächelnd wieder. Man soll die Sache nicht so eng verstehen, erklärte sie ihm. Volk sei für die Bahn kein streng zu nehmender rechtlicher Begriff. Volk sei eben Volk, also die Leute, die Leute halt, die wo hier leben.

Manuel war völlig durcheinander, und er wurde beinahe böse. Wie kann eine fast staatliche Institution wie die Deutsche Bundesbahn einen Volksbegriff verwenden, der nicht mit dem der Verfassung (in der vom Bundesverfassungsgericht autorisierten Bedeutung!!) übereinstimmt? Er wollte noch in Ruhe überlegen, mußte sich aber rasch entscheiden, denn das an der Schlange hinter ihm wartende Volk hatte angefangen, ungeduldig zu werden, und sein Zug fuhr auch noch bald nach Hannover ab. Er entschied sich also schnell für die BahnCard, zahlte sie und die Fahrkarte, bedankte sich zögerlich bei der kundenfreundlichen Dame und eilte zum Zug. Auf der ganzen Fahrt nach Hannover konnte er das Gefühl nicht loswerden, einen Verfassungsbruch begangen zu haben. Guillermo Aparicio

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