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Knapp an der Kitschgrube vorbei

Die Rückkehr des Eigenbrötlerischen in die Rockmusik: Mercury Rev wollten zwar nie eine richtige Band werden, haben mit ihrem Album „Deserter's Songs“ aber eine Art „Pet Sounds“ für die 90er veröffentlicht  ■ Von Thomas Winkler

Die letzten drei langen Jahre, verkünden etwas kokett und nicht ohne Stolz Jonathan Donahue und Sean Grasshopper, die beiden zentralen Figuren von Mercury Rev, sei man nicht groß rausgekommen aus dem Heimatstädtchen Kingston im Staate New York. So lange hat es gedauert, die Lieder zu schreiben für „Deserter's Songs“. So gilt es nun, die Rückkehr des Eigenbrötlerischen in die Rockmusik angemessen zu feiern.

Andere haben damit schon mal angefangen: Der New Musical Express kürte „Deserter's Songs“ zur Platte des Jahres, was übrigens auch Tom Rowlands fand, der in seiner Eigenschaft als Chemical Brother einen Teil der Platte remixte. Auch für Entertainment Weekly war es „the art-rock album of the year“, und selbst das war als Kompliment gemeint. Ganz nebenbei feiert all das natürlich auch die Rockmusik in ihrem tapferen, zähen und in letzter Zeit offensichtlich auch erfolgreichen Beharren aufs nackte Überleben.

Und das kam so. „Wir haben ein bißchen Musik gemacht zu einem TV-Naturfilm über Eisbären, den wir auf Video aufgenommen hatten“, berichtet Donahue, der zuvor fünf Jahre bei den neopsychedelischen Flaming Lips spielte, von der Entstehung seiner Band Mitte der 80er Jahre, „wir wollten nie wirklich eine Band werden.“ So kann's manchmal gehen, denn kurz darauf war man in Britannien schon das neue große Ding von der anderen Seite des Atlantik, nahm John- Peel-Sessions auf und wurde Titelheld der Musik-Weeklies. Das haben einige in der Band gar nicht gut vertragen, was wiederum den wie immer unschuldigen Hotelzimmern nicht bekommen ist.

1994 wurde dann der damalige Sänger David Baker als Grund allen Übels identifiziert und rausgeschmissen, weil „es schwierig ist, Gitarre zu spielen, während man sich miteinander prügelt“, so Donahue. Fortan war nicht mehr nur das Bandleben weniger chaotisch, sondern auch die Musik von Mercury Rev ordnete sich auf eine wundersame Weise. Plötzlich schälte sich aus Lärm und Surf und Schmockrock eine Vision von der Zukunft der Rockmusik in den Zeiten ihrer absoluten Überflüssigkeit. Oder so.

Auf jeden Fall hört sich „Deserter's Songs“ mit seinen elegischen Melodielinien, seinen sinfonischen Songstrukturen, seinen ausführlichen Intros, mit seinen Streichern, Harfen, Flügelhörnern und Glockenspielen nicht nur wunderschön, grandios, traumhaft, bewegend und entrückt, sondern halt auch ziemlich größenwahnsinnig an. Hier heißen Songs nicht umsonst „Opus 40“, und daß auch ja jeder mitkriegt, an welch zeitenumspannendem Werk man hier gearbeitet hat, wurden auch noch Levon Helm und Garth Hudson von The Band, den Pionieren, Großvätern und Paten jedweder Art von Americana, engagiert. Zwar spielen sie jeweils nur auf einem einzigen Song mit, aber so hat man die Namen wenigstens auf dem Cover.

Die Rettung ist Donahues Stimme, die ziemlich zerbrechlich und vor allem ein wenig quäkig klingt. Ein volles, pathosfähiges Organ hätte diesen Entwurf wohl über die Kante in die Kitschgrube geschubst. Man kann es trotzdem noch maniriert nennen. Man kann aber auch noch 20 oder 30 Jahre warten und dann sehen, was aus „Deserter's Songs“ geworden ist. Schon jetzt gibt sich diese Platte alle erdenkliche Mühe, das „Pet Sounds“ ihrer Generation zu werden. Bis dahin hat sie es womöglich ja tatsächlich geschafft.

So was passiert wohl, wenn man das Unmögliche will. „Wir dachten nie, wir seien experimentell oder gar avantgardistisch“, hat Donahue mal gesagt, „wir sind nur immer auf der Suche nach dem zeitlosen Song.“

Heute abend, 20.30 Uhr, ColumbiaFritz, Columbiadamm 9–11, Tempelhof

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