: Das Schweigen der Bauern
Wo entweicht nach dem Tod die Seele? Warum beschlagnahmt der Botschafter einen Fußball? Island ist ein Land voller Widersprüche mit einer vielfältigen Lteratur ■ Von Balduin Winter
Vulkane, kahle Weiden, geduckte Häuser, die Schrecken des Eises und der Finsternis, verschlossene Bauern und Fischer, die sich seit Jahrhunderten ihre Familiensagas weitererzählen: landläufige Vorstellungen von der Insel am Rande der Welt. Doch Island ist längst in der Moderne angekommen. Der Landrover hat das Reitpferd verdrängt, die Höfe sind mechanisiert, Hightech-Flotten fischen die Meere leer, und die Fußballmannschaft trotzt dem Weltmeister Frankreich ein Remis ab. Das Land, das gestern noch eine bäuerliche Gesellschaft mit festen Werten und Traditionen, mit mündlich überlieferten Erfahrungen und Mythen war, ist heute eine urbane (post-)industrielle Gesellschaft mit tiefen Widersprüchen: Diese spannungsvolle Entwicklung läßt sich auch in der isländischen Gegenwartsliteratur ablesen.
Im tiefsten Hinterland spielt Gudbergur Bergssons Roman „Der Schwan“. Eine neunjährige Ladendiebin wird zur Besserung in eine Bauernfamilie gesteckt. Provinz, Möwengekreisch, Pferde, schweigsame Bauern – alle Ingredienzien zu einem Heimatroman wären gegeben, doch für Idyllisches ist in diesem Buch kein Raum. Die Menschen haben keine Namen, sie heißen nur „der Bauer“, „der Knecht“, „die Kleine“. Der Familienname verweist in Island auf die Herkunft seines Trägers, hatte daher in früheren Zeiten eine soziale Funktion. Der Wegfall des Namens signalisiert die Auflösung alter Bindungen.
Der Fremdheit, die auf die Kleine einstürzt, kann sie nur mit ihrer Phantasie begegnen – schwebende Geschichten, die manchmal ins Tragische zu kippen drohen, von höchsten Glücksgefühlen bis zu Suizidwünschen. Dabei dominiert der ländliche Alltag: die Natureindrücke, das Aufzäumen der Pferde, das Weiden der Kühe. Nur mit einem Knecht, der Tagebuch schreibt, kann sie ein wenig über die großen Fragen des Lebens reden, über die Zitzen an den Kühen und an den Männern, über die Beschaffenheit der Seele und wo sie beim Tod entweicht: durch den Hintern?
Bergsson, von Milan Kundera als „großer europäischer Romancier“ gelobt, registriert mit feinem psychologischem Strich die Stimmungen der Kleinen, ihre Launen und Träume, ihre wechselnden Phasen von Verschlossenheit und Verstellung, von Neugier und Fröhlichkeit. So entsteht das anrührende Porträt eines jungen Mädchens, das, konfrontiert mit einer ungewohnten Umgebung, die Welt entdeckt und sie neu erfindet. Äußerlich passiert nicht viel. Doch beim Lesen beginnt man unwillkürlich, Fragen an die eigene Kindheit zu stellen.
Familiengeschichten haben eine lange Tradition auf der Insel. Daran knüpft Göran Tunström mit seinem Roman „Der Mondtrinker“ an. Doch seine Familie besteht nur aus Vater und Sohn. Ihre Beziehung wird zunächst mit viel Witz geschildert. Halldór zieht seinen Sohn Pétur zu den fallenden Quinten Haydns mit natürlichem Hai-Lebertran auf. Beim Rundfunk macht er die wichtigste Sendung, den Fischereibericht, und hat gute Beziehungen zu den höchsten Politikern. So ist es ganz normal, daß er, um den Bildungshunger Péturs zu stillen, den Botschafter in Nigeria anruft, ob es dort Meerrettich zum Dorsch gibt. Normal ist auch, daß der Vater nächtens in den Garten geht, seine Hände zum Vollmond hebt, um Mondmilch zu trinken.
Zum 12. Geburtstag erhält Pétur einen Fußball. Er schießt ihn in den Garten des französischen Botschafters, der den Ball als Eigentum der Republik Frankreich beschlagnahmt, trotz der Proteste Islands. Viele Jahre später wird sich Pétur in Paris in die Tochter des Botschafters verlieben, sie heiraten und seinem Vater vorweisen können, was er da statt des Fußballs nach Island zurückbringt.
Bei aller erfrischenden Skurrilität entwickelt sich eine beklemmende Vater-Sohn-Beziehung, aus der sich Pétur herausreißt, bis er schließlich ins Ausland geht. Aus der Ferne bekommt er den allmählichen Verfall des Vaters mit, der beim Rundfunk gekündigt wird, weil er zum Fischereibericht erotische Gedichte aufsagt und schließlich im Irrenhaus landet. Die Beziehung hat sich umgekehrt: Jetzt braucht der Vater Fürsorge. Was aber einst die Familie geleistet hat, übernimmt nun eine Verwahrungsanstalt.
In einer Erbschaftsangelegenheit taucht das Manuskript eines verstorbenen isländischen Kaufmanns auf, der in New York reich geworden ist. Es ist die Lebensbeichte eines Sonderlings, die Ólafur Jóhann Ólafsson in seinem jetzt neu aufgelegten Roman „Vergebung der Sünden“ auf zwei Ebenen aufrollt. Zum einen berichtet Pétur Pétursson aus den letzten Monaten seines Lebens, zum anderen erzählt er die Geschichte seiner Jugend, seiner Studentenzeit im von den Nazis besetzten Dänemark, seiner Emigration und seiner Karriere. Und seines Verbrechens. Tagebuch und Krimi.
Der Alte ist ein bewundernswert widerlicher Misanthrop, ein „Sammelbecken von Bosheit“, mißtrauisch auch den eigenen Kindern gegenüber. Als sein Sohn ihm mitteilt, daß des Vaters Ex-Frau im Koma liegt, wimmelt er ihn ab, weil er mit seiner jungen kambodschanischen Bediensteten, Mädchen für wirklich alles, wenn er nur könnte, feiern möchte. Doch in das Bild vom häßlichen Kapitalisten schleichen sich Widersprüche ein. So betet der Nihilist zu einem Gott, an den er nicht glaubt, denn er ist überzeugt, daß ihm seine Sünden nicht vergeben werden.
Als Sünden betrachtet er nicht seine skrupellosen, zum Teil kriminellen Geschäftsmethoden, die zu schildern ihm diebische Freude bereitet. Seine Sünde wurzelt in der fürchterlichen Rache wegen einer unerwiderten Liebe, einer Rache, die er nur überleben kann, indem er sich selbst völlig verhärtet. Eine Fallstudie, in der sich eine andere Seite Islands äußert, nämlich die Probleme der Entwurzelung und der Emigration.
Gudbergur Bergsson: „Der Schwan“. Roman. Aus dem Isländischen von Hubert Seelow. Steidl Verlag, Göttingen 1998, 192 Seiten, 34 DM
Göran Tunström: „Der Mondtrinker“. Roman. Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maas. Hanser Verlag, München/Wien 1998, 266 Seiten, 36 DM
Ólafur Jóhann Ólafsson: „Vergebung der Sünden“. Roman. Aus dem Isländischen von Moritz Kirsch. Steidl Verlag, Göttingen 1998, 312 Seiten, 28 DM
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